Sehe ich die dunklen Augen im dunkel umränderten Weiß verschwimmen, möchten meine Hände die noch kindlichen Wangen umfassen. Wie die eines Sohnes. Die weiche Haut aufnehmen in meine Handflächen. Die unschuldige Ahnungslosigkeit eines kaum Achtzehnjährigen am Ende seines Lebens spüren. Den das Reglement auf einen viel zu großen Thron gesetzt hatte. So schön das Möbel auch gestaltet ist.
Im dämmernden Licht konnten wir den aufwendig geschmückten Thronsessel bestaunen. Einen von sechs verschiedenen Typen, die ihm zur Auswahl mit ins Grab gegeben wurden. Er sollte nichts Gewohntes entbehren. Für die Repräsentation ein prächtiger Armsessel, wie alles königliche Gerät vergoldet. Ein Löwenkopf auf den Armlehnen da wo die Hände aufliegen. Die Rückenlehne, reliefartig geprägtes Leder, vergoldet und mit einem vielfarbigen Bildmotiv geschmückt.
Es zeigt Tutenchamun gekrönt und im festlichen Gewand auf seinem Thron. In trauter Zweisamkeit mit Anchesenamun, seiner Frau. Eindrucksvoll diese Pracht für ein Funktionsmöbel. Eindrucksvoll die vertrauliche Geste der Frau. Ihre Hand ruht auf seiner Schulter. Ihre Blicke hängen aneinander. Eine der seltenen Szenen in der darstellenden Kunst, die göttliche Majestäten privat miteinander zeigt. Menschen wie du und ich.
Wie komme ich dazu, von privater Beziehung zu reden? Kann doch nur aus der Haltung schließen, was sie möglicherweise bewegte. Zugegeben, es sind Vermutungen, Annahmen eines, der selber liebt und geliebt wird. Geschrieben steht nichts. Weder zu ihrer Zeit noch später.
Anders im Hohelied König Salomos, etwa dreihundert Jahre nach dem Ägypter. Für uns immer noch Altertum. Wir lesen von Liebenden, die sich verzehren, in der Hoffnung erhört zu werden. Von heißblütiger Erfüllung, nachträumenden Erinnerungen. Mit duftender Tinte geschriebene Verse. Jede Zeile übertrifft die vorige in der Schilderung der geliebten Person mit schwärmerischen Worten.
„Da der König um mich war, duftete meine Narde – Ein Strauß Myrrhe ist mein Liebster, der zärtlich mir – zwischen meinen Brüsten weilte er die Nacht.“
Es sind nur Worte, aber sie rufen spontan Bilder hervor in unserem Kopf. Realistische. Bilder von schönen Körpern, die einander lieben. Ich sehe sie im Garten lustwandeln, den Himmel darüber wie Glasglocke. Stelle mir ihre Gesichter vor. Die bronzefarbenen Wangen, gerahmt von schwarzem Haar. Die schmale, feingebogene Nase. Im Augenweiß glüht dunkel die Iris. Spiegelt das Licht des Himmels, Rot des Granatapfels. Blau der Hyazinthen vom letzten Abend miteinander. Orientalischer Traum. Der wirklich ist. Worte allein schaffen es, dass wir Gesichter sehen. Denen wir schon begegneten in Märchenbüchern, Kunstwerken und Filmen. Doch das Rätsel dahinter ahnen wir nur.
Vielleicht waren solche Verse en vogue damals. Und Salomo ließ sie sich gern vorlesen. Anlässe hatte er genug. Die Schriften übertreiben, wenn sie behaupten, er habe siebenhundert Frauen und dreihundert Nebenfrauen gehabt. Es werden zahlreiche gewesen sein, im Orient die Regel. Je höher die Stellung, desto mehr Frauen im Harem oder sonst einem Garten der Lüste. Sie beschäftigten ihn neben seinen Staatsgeschäften, dem Bau des ersten Tempels in Jerusalem.
Neue Forschungen ergaben, es sind nicht Lieder Salomos. Sondern Gedichte verschiedener israelitischer Dichter, die in einer Sammlung zusammengefasst weltberühmt wurden. Martin Luther übersetzte neben der Bibel auch diese wunderbaren Verse und gab dem Buch der Lieder den Titel ‚Das Hohe Lied Salomos’. So fanden und finden auch die Deutschen Zugang zu orientalischer Vers- und Liebeskunst.
Es ist eines jener Werke, die nur der Orient zustande bringt. Erzähler waren hoch angesehen im Volk. Worte statt Bilder, die später der Islam verbot. Bis heute haben Worte Macht. Erzeugen zwangsläufig Bilder in den Köpfen der Zuhörer. Vom besseren Leben. Es treibt sie zu Protesten auf die Straße. Aufgeheizt von Bildern im Internet neuerdings. Die Islamisten verbieten wollen, aber nicht mehr können. Weil sie Freiheit versprechen.
Konkretes Anschauungsmaterial aus Zeiten lange bevor es das Internet gab finden wir bei den Künstlern der Renaissance. Salomos Begegnung mit der Königin von Saba ist eines der eindrucksvollsten Motive. Im Fresco des Piero della Francesca in San Francesco, Arezzo. Im Relief auf der Bronzetür des Baptisteriums in Florenz von Lorenzo Ghiberti. Beides im typischen Stil der Renaissance. Alles ist Gestus, Szene, die Gesichter nur angedeutet. Nicht so wichtig?
Tutenchamun lässt mich nicht los. Nichts über seine Rolle als Ehemann ist bekannt. Und dennoch möchte ich dem jungen Mann abnehmen, dass er für sein Liebstes alles tat. Wie jeder frisch Verheiratete damals und heute. Stelle mir vor, beide spielten gerne mit dem Ball. Weil sie es liebte. Eigentlich nur unter Mädchen üblicher Zeitvertreib. Er führte Anchesenamun zum Tanz. In der nahen Stadt spielte eine Mädchenband. Auf Wandbildern sieht man die Schönen Harfe spielen, Schalmei, Flöte. Den unentbehrlichen Rhythmus erzeugen andere mit Klangkörpern, Trommel, Tamburin, Kastagnetten. Muss das eine Stimmung gewesen sein. Stelle mir vor, Tut danach Arm in Arm mit ihr nachhause. Schrieb ihr am selben Abend noch ein gefühlvolles Gedicht. Wie ich der meinigen. Schlief mit ihr und weckte sie am anderen Morgen mit Kuss und einem frisch gepressten Mangosaft. Wie ich die meinige. Soweit meine ganz subjektive Sicht.
Kann aber auch sein, dass es ganz anders zuging. Ohne orientalischen Zauber, den unsere Fantasie hinzu schwindelt. Tutenchamun, so hieß er noch nicht lange, ein Schnösel. Hopste frühreif von einem Vergnügen zum anderen. Mit seiner Frau, meist ohne. Zur Großwildjagd mit Trinkgelage hinterher. Bogenschießen gern. Mit dem Stock fechten am liebsten. Ähnelt unserem Säbelfechten. Fische stechen im Nil. Schwimmen überhaupt nicht gern. Das Pflichtfach bei der Erziehung am Hof war kein Vergnügen. Gelegentlich ärgerte er die Priester, indem er ihnen bei Gottesdiensten Kokosnüsse vor die Füße warf. Etliche Krüge Bier haben ihn nicht selten seine Herkunft vergessen lassen. Trank den allseits beliebten Gerstensaft mit Gleichaltrigen. Seine Art von Protest gegen die strenge Etikette am Königshof.
Eher aber ist anzunehmen, dass er die traditionellen Rituale einhalten musste. Vielleicht sogar einen Aufpasser hatte. Noch in den ersten Jahren seiner Regierungszeit. Er hatte zu lernen, wie man sich als König benimmt. Mehr noch: Sohn Gottes zu sein. Im Kopf Frieden und Wohlstand für sein Land. Private Bedürfnisse nicht in der Öffentlichkeit befriedigen. Ein Pharao stand für das Gleichgewicht der Welt. Dieser jahrtausendelang gepflegte Kult in Ägypten verlangte Aufgabe seines Selbst. Nur Gott sein. Die Arbeit machten Beamtenapparat und Generäle.
So könnte er sich wie im Käfig gefühlt haben. Beobachtet, gegängelt, gefüttert mit Sprüchen. Es tröstete ihn wenig, dass es ein goldener war. Mit der Zeit aber genoss er es, dass der Apparat spurte, wenn er Anweisungen gab. Alle nach seiner Pfeife zu tanzen schienen. Pharao ist Pharao. Doch er war nur das glänzende Aushängeschild. Hinter dem der Beamtenapparat seine offiziellen und privaten Geschäfte betrieb. Wäre er lieber ein Junge gewesen wie andere? Die davon träumen, alles besser zu machen als die anderen vor ihm?
Er blieb bei Bier. Was nicht auffiel. Denn Gerstensaft war dass beliebteste Getränk in Ägypten. Auch am Hofe. Wo hingegen die Oberschicht in der Regel Wein trank. Jeder Adelige, der etwas auf sich hielt, besaß einen Weinberg im Niltal oder einer Oase. In vielen Gräbern erhaltene Wandbilder zeigen Arbeiter im Weinberg und beim Abfüllen in Amphoren. Im Grab Tutenchamuns fand man Krüge mit getrockneten Resten. Analysierte sie als Wein. Von einem hinein geschmuggelt, der seine Trinkgewohnheiten nicht kannte? Oder ihn zwingen wollte, wenigstens auf seiner Reise ins Jenseits Wein zu trinken? Die Grabforscher jedenfalls freuten sich, nicht nur roten, auch weißen Wein analysieren zu können. Noch spannender die Entdeckung beschrifteter Krüge. Auf Krug 571 z.B. steht: Süßwein des Hauses Aton aus Karet, Kellermeister Ramosis.
Nicht lange nach seiner Inthronisierung werden das Amt und der mächtige Hof Tutenchamun verpflichtet haben, streng und konsequent zu sein. Sich gottähnlich zu verhalten. Was immer er auch tat oder tun ließ. Unzählige Grabbeigaben zeigen den König in vielen Funktionen und Situationen. Als Herrn aller Dinge. Die Tätigkeit ist wichtig, nicht das Gesicht.
Einzig