Später fand Heimes dann doch Zeugen, die über die extreme Brutalität der SS gegenüber den Zwangsarbeitern berichteten. So schilderten sie, dass sechs ergriffene französische Häftlinge nach einem misslungenen Fluchtversuch am Karfreitag hingerichtet wurden. Zwei von ihnen wurden an diesem Tage gekreuzigt, wobei die übrigen Gefangenen dem langsamen Sterben zusehen mussten.
Außerdem schilderten Zeugen eine Lieblingsbeschäftigung der SS, das „Baumhängen“. Dabei wurden dem Betroffenen die Hände auf dem Rücken zusammengebundenen und dann an den Armen hochgezogen.
Eine gebräuchliche Strafe, z.B. für das Essen von Gras, war die Prügelstrafe auf dem Prügelbock. Hierbei musste der Häftling die Zahl der Stockschläge selber laut mitzählen. Verzählte er sich, begann die Strafe von vorne.
Ein Niederländer wurde getötet, weil er bei der Arbeit eine Weinbergschnecke aß.
Zeugen schilderten, dass es eine beliebte Beschäftigung der SS war, Weinflaschen auf den Boden zu werfen und die Gefangenen barfuß über die Scherben laufen zu lassen.
Am Wochenende gab es im Hotel Wildburg Feiern der SS, bei denen Gefangene aus Spaß gehängt wurden. Die Schergen wollten das Verhalten der Sterbenden beobachten. In die Folterbaracke des Bruttiger Lagers wurden Gefangene mit einem Strick geschickt und dort gezwungen, sich selbst zu erhängen.
Es gibt noch viele Beispiele aus meiner journalistischen Praxis, bei denen ich mit den Gräueltaten des Nationalsozialismus konfrontiert wurde.
Und die Gutmenschen von heute? Sie wissen genau: Wenn sie jemand auch nur bei der leisesten Kritik an der Flüchtlingspolitik unserer Regierung in die Nazi-Ecke stellen, wird dieser Jemand nachhaltig eingeschüchtert. Denn in diese Ecke will sich niemand stellen lassen.
Nebeneffekt: Der Nazi-Keulen-Schwinger erhebt sich dabei selbst zum vollkommenen und strahlenden Gutmenschen und wird so zum Moralimperialisten.
Wenn man diese Praxis der „Einschüchterung auf leisen Sohlen“ einmal erkannt hat, wird man dagegen immun. Heute scheren mich solche Nazi-Beschimpfungen nicht im Geringsten, ganz einfach weil ich weiß, dass ich kein Nazi bin.
Dennoch: Viele Menschen lassen sich davon beeindrucken und scheuen sich, den Mund aufzumachen.
Aber: Wer seine Meinung sachlich äußert, ohne andere zu beschimpfen, ist Demokrat und kein Nazi. Die Demokratie lebt vom Engagement. Es kostet manchmal nur ein bisschen Überwindung, aber das sollte man schaffen. Meine Schwester hat es auch geschafft und meine Tochter ebenso, obwohl beide überhaupt nicht politisch aktiv sind.
Integration und Re-Integration
„Entfremden Sie bitte die beiden Jungs nicht der thailändischen Kultur“, hatte mich eine Dame des thailändischen Familienministeriums ermahnt, ehe sie den Stempel zur Genehmigung der Ausreise von Somkhit und Willi in deren Reispässe drückte.
Ich habe ihr das in die Hand versprochen, ohne zu ahnen, was das für mich für Konsequenzen haben würde.
Wenn Ausländer nach Deutschland kommen, wird gerne darüber gesprochen, ob und wie sie in unsere Gesellschaft integriert werden können.
Bei zwei Jungs im Alter zwischen drei und fünf Jahren ist das kein Problem. Beide schickte ich in Oeffingen bei Stuttgart in den Kindergarten. Innerhalb eines Jahres konnten sie genauso gut Deutsch wie ihre Spielkameraden. Grundschule war ebenso wenig ein Problem wie später das Gymnasium in Koblenz.
Mit Eintritt in die höhere Schule begannen beide mit dem Fechtsport. Ihr Sportlehrer Eberhard Mehl hatte in Rom mit der deutschen Mannschaft olympische Bronze gewonnen. Jeden, den er für talentiert hielt, beorderte er in die Fecht-AG des Max-von-Laue-Gymnasiums:
„Du kommst heute um sechs in die Fecht-AG.“
Gefragt hat Mehl nicht. Er hat es im Imperativ „gewünscht“.
Beide Jungs waren äußerst talentiert, Willi einen Tick mehr als Somkhit. Im ersten Jahr wurde Willi Stadtmeister der Säbelfechter bei den Schülern, in den beiden Jahren darauf Deutscher B-Jugendmeister. Insgesamt holte Willi sieben deutsche Meistertitel.
Und nicht nur das: Willi wurde zweimal Junioren-Weltmeister: Mit der Mannschaft in Valencia/Venezuela und im Einzel im ungarischen Keszthely. Danach Europameister in Bozen. 19)
Für mich war es ergreifend, wie ein Thailänder auf dem Siegerpodest bei der Deutschen Nationalhymne feuchte Augen bekam. Zwei Bronzemedaillen bei Olympia in Sydney für Deutschland besiegelten eine gelungene Integration.
Als er dann auch noch aus der Hand von Johannes Rau das silberne Lorbeerblatt, die höchste Sportauszeichnung, die ein Deutscher Bundespräsident vergeben kann, erhielt, war er endgültig in seiner neuen Heimat angekommen.
Kurios, wenn auch nie vom Deutschen Fechterbund besonders hervorgehoben: Im deutschen Team focht mit Dennis Bauer nur ein einziger „echter“ Deutscher. Teamkollege Eero Lehmann hatte marokkanische Wurzeln und Alexander Weber wurde von seiner argentinischen Mutter angefeuert.
Alles Belege, wie Integration funktionieren kann, wenn die Verhältnisse stimmen. D.h., wenn das Umfeld so ist, dass man sich anpassen muss. Und es klappte völlig problemlos. Ich machte mir in Sachen Integration gar keine Gedanken. Ich ließ es einfach geschehen.
Dasselbe galt natürlich auch für meinen zweiten Sohn Somkhit, der allerdings sportlich nicht ähnliche Erfolge vorweisen konnte und der nicht so im Rampenlicht stand wie sein „Bruder“.20) Er tendierte mehr in Richtung Trainerausbildung und brachte mit Peter Kulasza sogar einen Deutschen B-Jugendmeister hervor.
Also Sport als Integrationsverstärker.
10 Jahre waren die Kinder schon im Haus und ich war 50 Jahre alt, als es zu einem Zwischenfall kam, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Beim Versuch, Vatikanisches Roulette zu spielen, machte ich einen Top-Gewinn: eine Tochter war unterwegs. Ungeplant, aber deshalb nicht weniger herzlich willkommen. Die Ultraschall-Untersuchung zeigte es deutlich.
Darüber musste ich meine beiden Söhne natürlich sofort informieren, ehe sie den Umstand selbst entdeckten. Ich rechnete damit, dass sie mich spöttisch auslachen würden, predigte ich ihnen doch, ja nicht ohne Kondom Dinge auszuprobieren, die man besser mit Kondom macht.
Doch kein Lachen kam. Willi stand wortlos auf und ging in sein Zimmer. Er war seltsam ruhig weggegangen. Ich ihm also nach und fand ihn auf seinem Bett, das Gesicht weinend im Kopfkissen vergraben. Ich wollte wissen, was los war. Unter Tränen meinte er:
„Jetzt, wo du ein eigenes Kind hast, brauchst du uns ja nicht mehr.“
Das wiederum ließ bei mir die Tränen kullern.
„Willi, Somkhit und du, ihr seid meine Söhne. Ich habe euch ausgesucht, weil ihr ganz liebe Kinder seid, und ihr seid mir ans Herz gewachsen wie eigene Kinder. Es wird keinen Unterschied geben zwischen Euch und dem, was da in ein paar Wochen ans Licht der Welt kommen wird.“
Willi wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Ich auch. Bei Somkhit waren erst gar keine gekommen. Dafür war er zu ökonomisch veranlagt. Er fragte nur:
„Und was erben wir jetzt?“
Der Lacher auf allen Seiten brachte uns wieder in den Alltag zurück. Und seither sprechen wir nicht mehr über Adoptivkinder oder Adoptiveltern. Wir sind alle eine einzige Familie und alle drei Kinder wuchsen wie echte Geschwister auf. Wir sind noch enger zusammengerückt: Monika, Somkhit, Willi, ich und später auch Manuela.
Als beide Jungs ins Teenager-Alter kamen, erinnerte ich mich an mein Versprechen gegenüber der Mitarbeiterin des thailändischen Familienministeriums, die Kinder nicht der thailändischen Kultur zu entfremden. Ich rief die Söhne zu mir und erklärte:
„Jungs. Ihr lebt hier bei mir in Deutschland. Ihr habt tolle Erfolge im Sport errungen, seid gut gelitten in Schule und Verein, aber bitte vergesst nicht, wo ihr herkommt, wo eure Wurzeln sind.