Gülcin öffnete den Schrank und reichte Lisa einen weißen Reiseföhn. »Hier. Setz dich hin, ich föhne dich.«
Lisa setzte sich in den weichen Sessel vor den Schreibtisch und schloss die Augen, als die Ältere ihr gekonnt das Haar frisierte.
»Du hast jede Menge Talente. Bist du auch Friseuse?«
Gülcin gluckste. »Ich habe zwei Töchter. Ich kann dir auch die Haare schneiden, wenn du möchtest.«
»Nene, lass mal. Ist Marie schon da?«
»Bis jetzt noch nicht.«
Lisa schaute auf die Uhr. Fünf Minuten nach sieben.
»Ich habe sie extra gebeten, rechtzeitig zurückzukommen. Sie braucht ja nicht zu duschen, aber sie muss sich noch umziehen. Ich wollte endlich einmal pünktlich weg.«
»Vielleicht muss sie oben helfen? Die haben noch Patienten. Unten ist auch ziemlich viel los.« Gülcin schaute aus dem Fenster. »Jetzt sind noch mehr Soldaten da.«
»Was ist denn da los?«
»Sie evakuieren die restlichen Patienten vom Erdgeschoss. Aber es stehen immer noch Krankenwagen herum.«
»Nein, das meine ich nicht. Da hinten, schau mal. Es brennt!«
»Das muss irgendwo in der Innenstadt sein.« Gülcin biss sich auf die Lippen.
»Ich hole jetzt Marie, wenn du möchtest, bringen wir dich nach Hause.«
»Ich kann mit dem Bus fahren.«
»Nein, lass mal. Ist kein Umweg.«
Lisa bezweifelte, dass der Bus den Fahrplan einhalten würde. Die letzten Tage hatte es auch schon Störungen gegeben. Gülcin war deswegen später als sonst eingetroffen.
»Lisa, glaubst du ich kann mir ein paar Medikamente mitnehmen? Schmerztabletten?«
»Hier sind sicher noch Musterpackungen, ich schau mal.«
Lisa öffnete den Schreibtisch des Stationsarztes. Nachdem hier sowieso alles den Bach runter ging, war Gülcins Wunsch mehr als verständlich. Sie durchsuchte die Schubladen.
»So, das ist zur Beruhigung, da sind Schmerztabletten und hier haben wir auch noch Antibiotika. Das muss aber unter uns bleiben. Der hat die Packungen zwar auch nur von Pharma-Vertretern geschenkt bekommen, aber wir dürfen sie nicht einfach nehmen.«
»Ist okay. Danke. Ich sage nichts!«
Lisa schloss den Schreibtisch wieder ab. Praktisch, dass der Schlüssel vom Stationszimmerschrank auch hier hier passte. Sie beobachtete, wie Gülcin die Medizin in ihrer großen Tasche, neben zwei Desinfektionsflaschen und einer Handschuhpackung, verstaute. Sie sollte vielleicht auch noch eine Packung Einmalhandschuhe mitnehmen. Gut, dass Marie den Rucksack dabei hatte.
»Ich warte hier.« Gülcin setzte sich auf einen der Sessel im Flur, vor der Station, die sie sorgsam abgeschlossen hatten. »Lass dir Zeit.« Sie nahm eines der Magazine vom Tisch und begann zu lesen.
Lisa drückte auf den Aufzugknopf, entschied sich aber dann doch für die Treppe, statt zu warten. Die Tür zur Intensivstation stand offen. Die Aufzugtür war blockiert. Lisa half dem Sanitäter eine sperrige Liege, auf der ein Mann festgeschnallt war, in den Aufzug zu schieben, danach betrat sie die Station. Ein Arzt rannte, ohne sie zu beachten, in ein Patientenzimmer. Im Verbandsraum standen Soldaten und stritten sich mit einer Pflegerin, die Lisa nur vom Sehen kannte.
Betty kam mit einem Tablett aus der Küche.
»Lisa, was machst du denn hier?«
»Ich möchte meine Tochter abholen.«
»Sie ist bei ihrer Freundin. Letztes Zimmer, komm ich zeige es dir.« Betty stellte das Tablett in das Stationszimmer und begleitete Lisa.
Marie beugte sich gerade zu Hannah hinunter, um sie besser zu verstehen, als Lisa sie zurückriss.
»Kind, du musst Abstand halten!«
Lisa war schockiert, Hannah sah entsetzlich aus.
»Sie wollte mir gerade etwas sagen!«, empört wandte sich Marie ihrer Mutter zu. Hannah stöhnte, ihre Lippen waren geschwollen, die Augen weit aufgerissen.
»Oh mein Gott! Geht mal beiseite!« Betty nahm das Ohrthermometer.
»Das Fieber ist etwas heruntergegangen, aber die Augen gefallen mir gar nicht.«
Sie schlug die Decke beiseite.
»Der Arm wird nekrotisch. Sie hätten ihn besser gleich amputiert.«
Lisa war schockiert.
»Ich dachte sie soll operiert werden!« Marie biss sich auf die Lippen.
»Unter normalen Umständen hätte man vielleicht etwas machen können. Aber deine Freundin hat einen schlechten Zeitpunkt erwischt«, flüsterte Betty. »Ich bezweifle, dass wir ihr noch helfen können.«
»Wir brauchen einen Arzt!« Marie rannte aus dem Zimmer.
Lisa und Betty schauten bekümmert auf Hannah.
»Deswegen holen Sie mich? Die ist doch so gut wie tot, hier kann keiner mehr etwas machen!«
Der Arzt hatte nur einen Blick auf das Mädchen geworfen, bevor er fluchend aus dem Zimmer eilte. Fassungslos schaute Marie ihm hinterher.
»Was für ein Arsch. Hab keine Angst, ich bleibe bei dir!«, versprach sie der stöhnenden Freundin und streichelte ihre heiße Hand.
Lisa schluckte. »Marie, das geht beim besten Willen nicht. Wir müssen jetzt fahren.«
»Bitte Mama, Hannah ist meine beste Freundin. Ich kann sie jetzt nicht allein lassen! Stell dir vor, ich würde an ihrer Stelle hier liegen!«
Marie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Sie umklammerte Hannahs Hand.
»Lass sie bei ihrer Freundin. Sie kann in einem Dienstzimmer übernachten«, flüsterte Betty. »Du bist ja morgen wieder da und kannst sie dann mitnehmen. Ich bleibe auch hier. Habe Rufbereitschaft.«
Hannahs Augen schauten in eine unbestimmte Ferne. Die riesigen schwarzen Pupillen, die gelbe Sclera und das porzellanweiße Gesicht mit der durchscheinenden Haut ließen sie fremdartig aussehen. Ihr langes blondes Haar lag, in einem Zopf gebändigt, auf der rechten Seite.
»Gut, dann bleibe bei ihr. Oma wird nicht glücklich sein, wenn ich allein nach Hause komme. Pass auf dich auf.«
Lisa umarmte Marie zum Abschied. »Hier ist der Schlüssel von meinem Spind. Den anderen Schlüssel hast du ja noch.«
»Sag Oma, dass es mir leidtut. Aber ich kann Hannah jetzt nicht allein lassen.«
Lisa nickte unglücklich. Sie kannte das Mädchen auch schon sehr lange. Ihre Eltern lebten erst seit kurzem getrennt.
»Schade um die Kleine«, meinte Betty, als sie mit Lisa die Station verließ. »Sie wird es nicht mehr lange machen.«
»Gestern sah es noch so aus, als ob sie eine Chance hätte. Wenn sie nur besser gleich amputiert hätten.«
»Ich weiß es nicht. Das Mädchen liegt im Sterben. Ich werde ihr Morphin spritzen, dann quält sie sich nicht so lange. Ich habe vorhin schon versucht, die Mutter zu erreichen. Leider vergeblich.«
»Sie wohnt nicht weit von mir, ich fahre auf dem Heimweg bei ihr vorbei. Kümmerst du dich bitte um Marie?«
»Ja, keine Sorge. Wir verlegen gerade noch zwei Patienten, dann ist es ruhiger und ich habe Zeit für sie.«
Lisa verabschiedete sich von Betty und eilte nach unten.
Gülcin saß immer noch auf ihrem Sessel und blätterte in einer Zeitschrift.
»So, sorry, hat etwas länger gedauert. Meine Tochter bleibt hier bei ihrer Freundin, es sieht schlecht aus für das arme Mädchen.« Lisa wischte sich eine Träne von der Wange.
»Oh nein, wie furchtbar!«
»Die arme Mutter. Sie war am Morgen noch hier. Die Stationsleitung hat versucht anzurufen und sie bis