Aufzeichnung 7.Mai:
Ich mache meine Alltagsaufgaben ´on the road´. ich habe heute z.B. meine Bank angerufen. Frage: Was muss man machen, um ein ´normales´ Leben ´on the road´ zu leben? Geht das, die komplette Heimatbürokratie auf solch einer Reise mit abzuwickeln? Spannend, das auf ein Minimum zu reduzieren, da doch viele bürokratischen Schritte termingebunden sind. Ich nehme mir vor, diese Frage für meine weitere Lebensplanung zu berücksichtigen. Industrie 4.0 propagiert ja diesen Vorstoß.
Nach Charly, einem Vorort südlich von Lyon treffe ich endlich wieder auf die Rhône. Es ist ein grüner Landschaftsstreifen, der durch die Auen der Rhône führt. Links der breite träge Fluss, vor mir die duftende Frühlingslandschaft, rechts mal Wald, mal kleine Ortschaften, schönes Wetter, angenehme Temperaturen, das ist das Ambiente, das ich mir für die Fahrt vorgestellt habe. Kurz vor Condrieu durchquere ich einen Naturpark, der über Île de la Chèvre, Île du Beurre und Île des Pêcheurs führt (Die Inseln der Ziege, der Butter und der Sünder). Diese Inseln sind Zufluchtsorte für viele Tiere und besitzen eine große Pflanzenvielfalt. Es gibt einige Ausguckposten auf Bäumen, die der Öffentlichkeit gegen ein geringes Eintrittsgelt zu Verfügung stehen, sodass diese Inseln ein wahrer Schatz für Kinder und Erwachsene sind.
Macht einen das Radlfahren allein nicht zum Säufer? Ich ertappe mich dabei, abends vor dem Zelt zu sitzen und eine Flasche Wein zu trinken. Nach einem langen Tag ist man einfach zu faul, noch einmal große Ausflüge zu machen. Aber hier in Condrieu ist es schön, ein Campingplatz nur für Radfahrer, Wohnmobile werden abgewiesen. Dann der Blick auf den Fluss, auf dem ab und zu Transport- oder Ausflugsschiffe vorbeirattern. Ich verbringe hier ganze drei Tage und lerne das Dorf näher kennen. Es wirkt wie ausgestorben, erst abends um 18 Uhr machen ein paar Kneipen auf, um dann drei, vier Kunden aufzunehmen. Eigentlich müsste hier viel mehr los sein, da Condrieu am Fluss am Fuße von Berghängen mit Weinreben liegt, in der Nähe eine riesige Feriensiedlungen besitzt und Lyon nicht weit entfernt ist. Ich verstehe das nicht. Erst am Ende meiner Reise löst sich für mich das Rätsel zumindest teilweise auf. Es betrifft den allgemeinen Strukturwandel, den ich so sehr in allen Ländern gesehen und erlebt habe.
Nach Condrieu treffe ich einen jungen, etwa 28 Jahre alten Kanadier, wir radeln 30 Kilometer bis Saint-Vallier zusammen. Er hat Probleme mit seinem Fahrrad, ich hielt an und half ihm. Er kommt aus der kanadischen Armee und macht eine Europatour, lebt vom Erspartem mit ca. 20 kanadischen Dollars am Tag, das sind ca. 13 €. Naja, ich brauche momentan 4-mal so viel! Wir verabschieden uns mit einer gegenseitigen Fotoaufnahme.
Saint-Vallier ist eine kleine Stadt, am Fluss die große Hauptstraße, am Hang die Innenstadt. Kaum raus aus der Innenstadt kommen sofort die großen Einkaufszentren mit allem, was der Mensch braucht, inklusive Restaurants. Ich verstehe, warum in der Innenstadt nur sehr wenige Kneipen zu finden sind. Es ist einfach nicht mehr der Mittelpunkt einer Stadt. Der Eindruck, den ich in Condrieu mitgenommen habe, wiederholt sich hier.
Endlich komme ich nach Valence im Department Drôme. Heute kommt mich Eva, meine Frau, für ein Wochenende besuchen. Ich freue mich. Es ist dann doch etwas komisch, solange getrennt zu sein, aber es tut der Beziehung auch gut. Wir besichtigen die Innenstadt und sehen viel Leerstand von Häusern und Wohnungen. Auf zahlreichen Plakaten werden Wohnungen zu erschwinglichen Mieten angeboten. Mittags ist die Stadt ausgestorben, der Kommerz findet am Rand der Innenstadt statt. Valence ist praktisch zweigeteilt. Die alte Innenstadt auf der einen, der Rest auf der anderen Seite. Getrennt werden die beiden Teile durch eine breite Allee, auf der ein mehrtägiger Jahrmarkt stattfindet. Im Anschluss ein großer Platz, ein Parkplatz, voll mit Autos. Dahinter der Stadtpark, der Parc Jouvet. Hier treffen sich die Menschen, es ist warm, sie liegen auf der Wiese. Wir auch und verbringen so den Sonntagnachmittag. Auch dieses Wochenende geht vorüber und ich fahre weiter.
Im weiteren Verlauf wechsele ich relativ oft das Rhône Ufer, aber fast immer geht es durch schöne Auenhaine, oft Birkenwälder. Sie rauschen sanft im Wind, und ich bin allein auf weiter Flur. Aber ich sehe auch, wie die großen Nationalstraßen mitten durch die Dörfer gelegt werden. Umgehungsstraßen gibt es äußerst selten. In meinen Augen sinkt die Lebensqualität dort massiv. Wer gewinnt bei solch einer Planung, wer verliert dabei?
Schöner, verwachsener Campingplatz in Saint Viviers, aber total in die Jahre gekommen, alles scheint aus den 60 Jahren zu sein (Nebenbei, das ist in Frankreich meine generelle Erfahrung).
Ich fahre am AKW in Montelimar mit vier Türmen (= 4 Meiler?) vorbei, sie sehen bedrohlich alt aus.
Als ich durch Mornas fahre, stockt mir der Atem, denn ich erlebe den Sündenfall im Straßenbau schlechthin. Eigentlich ist es eine sehr alte Stadt am Hang gelegen. Steil oben auf dem Berg ist eine Festung aus dem 11. Jahrhundert. Von weitem sieht die Stadt wie ein Juwel aus. Wenn man aber näher kommt, entdeckt man rechts neben der Stadt die sechsspurige Autobahn, dazwischen noch hinein gezwängt die N7 mit dem Schwerlastverkehr. Links zwischen Stadt und Berg eine viel befahrene Eisenbahnlinie, auf der der TGV vom Mittelmeer nach Paris verkehrt, direkt an den Häusern vorbei. Im Straßencafé in der Stadtmitte kann man sein eigenes Wort kaum verstehen. Dazu noch die schlechte Luft. Aber es leben Menschen hier. Furchtbar. Mornas ist für mich die schlimmste Stadterfahrung, eine städtebauliche Katastrophe. Die ganze Reise denke ich darüber nach, wie solch eine einstmals schöne Stadt dermaßen kaputtgemacht wurde, ohne Rücksicht auf die Menschen. Es sind dies auch die Planungssünden der vergangenen 40-50 Jahre. Fast scheint es, als wollten die Planer die Menschen strafen, sie vertreiben. Wieviel Mut oder Alternativlosigkeit gehört dazu, hier weiter wohnen zu wollen!
Seit Seysell habe ich Rückenwind, bedingt durch den Mistral, der durch das Rhônetal fegt. Er ist moderat, aber mir wurde gesagt, dass der Mistral das ganze Jahr relativ unberechenbar sein kann. Da es zudem flussab geht, ist es ein lockeres Radeln, auch wenn ab Orange der Wind wieder stärker wird und ich die Lenkstange fester halten muss.
Flora und Frühling: Ich entdecke die ersten Lavendelfelder und spüre die Provence zum Greifen nahe, auch wenn ich mich in Garde befinde und die Provence nicht durchfahren werde.
Dann komme ich nach Orange, der Kleinstadt, in der das römische Theater aus dem ersten Jahrhundert dominiert. Es ist gut renoviert, sodass es als Kulisse für viele Theater- und Musikaufführungen dienen kann. Sehr beeindruckend dieses vielstöckige Monument vergangener Zeiten. In der Innenstadt kleine Plätze, die den Fußgängern – und den Fahrradfahrer vorbehalten ist, kleine Straßencafés in lauschigen Nischen der Plätze, laden dazu ein, hier einige Zeit zu verbringen.
Bild: Die Steilhänge bei Donzère nördlich von Avignon
Nicht weit von Orange befindet sich Avignon (Department Vaucluse). Ein Muss für alle Touristen. Und mit dem Fahrrad ein Traum. Während die Innenstadt für Autos gesperrt ist, komme ich mit dem Fahrrad in dieser historischen Stadt überall durch. Genial. Der Campingplatz ist auf der anderen Flussseite und bietet einen Blick auf die grandiose Silhouette.
Avignon, schön, schaurig, etwas morbide. Durchaus auch für die heutige Zeit noch treffend das folgende Gedicht von Jean Aicard (1848-1921) über Avignon und seine Umgebung 1874.
Avignon
…
Avignon resplendit dans un passé de gloire ;
Pétrarque à son nom seul m'apparaît et sourit,
Et son présent est beau de garder la mémoire
Du parler des anciens dont un mot m'attendrit. Ô félibres, salut ! salut, ô Roumanille ;
Chanteur