Die eigentliche Innenstadt liegt auf der süd-östlichen Seite der Rhône, die in der Schweiz auch der Rotten heißt. (Das ist eine linguistische Besonderheit, dass in der Schweiz und in Frankreich der Fluss männlich ist - der Rotten, Le Rhône - nur im Deutschen weiblich, die Rhône. Das hat bestimmt einen historischen Hintergrund, den ich noch ergründen werde). Tief aus dem Wallis kommend, durchquert der Rotten den ganzen Genfer See und tritt in Genf als Le Rhône wieder ans Tageslicht. Dort schließt sich die Innenstadt Genfs an, unten die teuren Einkaufsstraßen, oben auf dem Berg die alte Innenstadt mit herrlichen Plattformen, die eine Aussicht auf Genf und den Genfer See mit seiner riesigen Wasserfontäne zulassen.
Nahe Genf in der Schweizer Stadt Meyrin liegt CERN, diese riesige nukleare Forschungsanlage, wobei der größte Teil davon bereits in Frankreich liegt. Das gesamte Gebiet wurde von der UNESCO als extraterritoriales Gebiet deklariert, geleitet von einem Rat des CERN. Dort gilt weder das Recht der Schweiz oder Frankreichs, was die Immunität des Rats vor jeder Gerichtsbarkeit in diesen Ländern bedeutet. Da das Gebiet aber auch kein eigenes Recht hat, werden alle Schäden über ein eigenes Schiedsgericht und eine Haftpflichtversicherung abgewickelt. Merkwürdige Konstruktion. Der große Teilchenbeschleuniger LHC als Teil von CERN hat einen Umfang von 26 Kilometern (!) – also einem Durchmesser von 8, 7 Kilometern - und enthält 9300 superstarke Magnete. Das ist sehr beeindruckend. Auch beeindruckend ist, dass 23 Staaten Mitglieder des Rates sind und über den (offiziellen) Haushalt von ca. 1 Milliarde Euro pro Jahr verfügen.
Ich fahre südlich der Rhône in die Berge nach Frankreich und finde dort einen Campingplatz. Nur ein Schild mitten in einem Wäldchen mit der Aufschrift, „Grenze, sie dürfen nur passieren, wenn sie gültige Papiere besitzen“ deutet an, dass hier ein anderes Land beginnt, eine sogenannte grüne Grenze, unkontrolliert, ein Feldweg.
An der Rhône – träge und schön
Die folgenden 700 Kilometer bis Sète werde ich durchweg an der Rhône auf der Via Rhôna verbringen. Da der Mistral für mich ein Rückenwind ist, ich flussabwärts fahre und es nur am Anfang etwas gebirgig ist, ist das eine schöne, einfache Strecke, spätestens ab Lyon. Mir tun alle Radlfahrer, die mir entgegenkommen, leid. Sie schwitzen ganz schön.
Doch von Beginn an: Kurz nach der Grenze ist der 1. Mai in Frankreich. Überall werden Blumensträußchen mit Maiglöckchen verkauft. Ich sehe viele Straßenfeste und Straßenmärkte, aber hier auf dem Land keine politischen Demonstrationen. Ich nehme an, diese konzentrieren sich auf die regionalen Hauptstädte.
Ich komme nach Seysell, eine liebenswerte Provinzstadt, es ist Jahrmarkt, ein wildes Gestikulieren. Ich fühle mich gleich wohl. Am nächsten Tag ist der Markt wieder weg und die Stadt wirkt wie ausgestorben.
Wenn mich jemand fragt, wo ich herkomme und wohin ich fahre, steigt die Anerkennung der Leistung. Danke.
Bild: Die Rhône als wilder Bergfluss in der Nähe des Lac du Bourget
Der Campingplatz in Seysell ist für Zelte gesperrt, das Sanitärhaus ist durch den Regen abgerutscht. Dafür kann ich verbilligt zwei Tage in einem Mobile Home wohnen. Es ist einsam dort. Die Zeit vergeht nur langsam. Es ist trotzdem angenehm, nach den Tagen im Zelt die Zeit in einem Zwei-Zimmer Wohnmobil zu verbringen. Da der Campingplatz oben auf dem Berg liegt, hat man eine schöne Aussicht. Aah, la France in der Haute-Savoie. Aber dann ist die Zeit wieder vorbei und ich freue mich auf die Weiterfahrt.
Ich fahre die Via Rhôna zwischen Seysell und Morestel – eine einsame, sehr schöne, kurvige Strecke, mit steilen Rhône-Tälern und einer eher hügeligen Landschaft. Und immer an der Rhône oder einem der Seitenarme entlang. Eine einsame, frühlingshafte, wilde Landschaft. Die Rhône hat hier noch den Charakter eines Wildbaches, ich fahre auf den Höhen eines Klammes, ein in Fels geschnittener Weg in den Hängen einer Schlucht, rechts neben mir die Schlucht, links die steilen und überhängenden Felshänge, fahre gewundene Straßen, durch Tunnel, manchmal steil hoch, dann wieder tief nach unten. Es sind die Ausläufer der französischen Alpen.
Kurz vor Lyon habe ich dann zum ersten Mal Rückenwind, der Mistral ist da. Das erzeugt ein neues Fahrgefühl. Der Wind treibt mich vor sich her, Steigungen werden zur gefühlten Demonstration meiner Fähigkeiten, ich habe nun das Gefühl, fast jede Steigung überwinden zu können. Erst ein temporärer Gegenwind bringt mich wieder auf den Boden meiner wirklichen Fahrfähigkeiten zurück.
Aufzeichnung 4.Mai:
Jede Großstadt (hier Lyon) hat ihre „Landsbergerstraße“ (in München), die man durchfahren muss, um in die Innenstadt zu gelangen. Stickig, endlos breite Spuren, voll mit Verkehr. Ich muss 15 Kilometer neben LKWs fahren, ohne Seitenstreifen.
Dieser Tag war kein Highlight für das sonst hervorragend ausgebaute Fahrradnetz. Und auch hier gilt wie in anderen Großstädten: Sehenswürdigkeiten sind i.d.R. in der Innenstadt konzentriert. Um an sie zu gelangen, muss man weite Wege Staub und Abgase schlucken. Die Sehenswürdigkeiten erscheinen wie Sandkörner in einem Meer von langweiligen, oft ungepflegten Häusern und grauen tristen Straßenschluchten.
Ich durchfahre Lyon, die drittgrößte Stadt Frankreichs, die schon über 2000 Jahre alt ist. Ein Kapitel der Geschichte dieser Stadt beeindruckt mich besonders: 1831 traten die Seidenweber in einen großen Streik, weil der vereinbarte Mindestlohn weiter gekürzt werden sollte. Die Weber hatten eine schwarze Fahne mit der Aufschrift: „Arbeitend leben oder kämpfend sterben!“ Viele der Weber wurden getötet, Anlass für Arbeiterrevolten in vielen Städten Frankreichs damals. Die Bewohner errichteten die „Traboules“, besondere Passagen zwischen Häusern, die den Durchgang von einem Haus zum anderen, von einer Straße zur anderen ermöglichen, auch über Innenhöfe, Keller und Tunnel. Sie sind heute eine Touristenattraktion, dienten aber damals als Versteck und Fluchtweg. Auch im 2. Weltkrieg konnten sich die Resistance – Kämpfer in diesen Traboules verstecken. Ebenfalls interessant ist es zu erfahren, dass das Y in Lyon aus dem Zusammenfluss der Saône und der Rhône herrührt, es schaut aus wie ein Y- von oben gesehen.
Der Campingplatz liegt außerhalb, abseits der Rhône, etwa 15 Kilometer im Süden (Saint Genis- Laval). Dort auf dem Platz entdecke ich einen Hühnerkäfig, in dem sich Hühner Tauben als „Hunde“ halten. Die Tauben laufen den Hühnern hinterher und versuchen, diesen immer den Weg frei zu halten und sitzen gemeinsam am Futternapf. Sehr witzig. Oder ist es umgekehrt? Haben die Hühner nur die falschen Eier ausgebrütet und betrachten die Tauben als ihre Aufzucht? (Mutter-Kind Beziehung). Ich bleibe einen Tag und beobachte das Stadtreiben von Saint Genis am Hauptplatz im Café sitzend und Pastis trinkend. Später kann ich aus meinem Zelt heraus das Treiben der Hühner beobachten und mir meine Gedanken machen.
Aufzeichnung 6.Mai:
Entscheidend auf dieser Reise ist NICHT, die Touristenroute in den Orten nachzufahren wie mit dem Auto, aus dem heraus der Blick auf die Lebensqualität einer Stadt für mich inzwischen sehr reduziert erscheint, sondern ‚das Andere‘ einer Stadt zu finden. Wie leben die Menschen dort, wie kommunizieren sie? Das ist mit einem Fahrrad besser zu erkunden, weil man auch oft Teil dieser Gesellschaft wird. Z.B. wird man gefragt, woher, wohin und schon kommuniziert man.
Jetziger Stand der Motivationsforschung: Es gibt drei Schlüsselfaktoren für das Radfahren, mit denen man sich auseinandersetzen muss:
+ Einsamkeit (verstärkt in den Pausentagen),
+ Neugier auf Neues,
+ sich zu beweisen (körperlich, gesundheitlich, psychisch).
Kurz vor Vienne ist die Via Rhôna wieder Ausflugsziel für alle. Es ist Sonntag, die Wiesen an der Rhône sind voller Kinder und Erwachsener. Wie immer, dampfen auch hier die Grills, liegt der Duft von Fleisch und Würstchen in der Luft, ertönt Musik aus allen Ländern dieser Erde. Schön, dass die Menschen solche Ausflugziele in der nahen Umgebung ihrer Stadt haben.
Mich