Die Hexe zum Abschied. Günter Billy Hollenbach. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Günter Billy Hollenbach
Издательство: Bookwire
Серия: Berkamp
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742772282
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Überfall kann sich nicht auf diese Weise zugetragen haben.

      Ein Schluck Tee, ein Eckchen Schokolade.

      Wie von selbst formt sich im Kopf eine neue Geschichte.

      Mit zwei Angreifern.

      Jetzt passen die Handlungsteile besser zusammen. Zu zweit lässt sich die Frau leichter auffangen, die Treppe hinauftragen. Kaum in der Wohnung angekommen, fesselt der eine Angreifer die Hände der ohnmächtigen Frau mit den Handschellen auf dem Rücken. Gleichzeitig klebt der zweite Täter ihr den Mund mit Klebeband zu. Jetzt ist das Opfer weitgehend wehrlos, kann nicht mehr um Hilfe rufen, falls es vorzeitig zu sich kommt. Damit sind die Täter fast schon am Ziel. Den Rest, die Füße fesseln und die Kleider vom Leib schlitzen, erledigen sie zügig, aber praktisch ungestört. Vermutlich tragen sie Gesichtsmasken. Besser die Frau sieht die Angreifer nicht, falls sie etwa durch die Verletzungsschmerzen plötzlich zu sich kommt.

      Die Geschichte überzeugt mich mehr.

      Na schön. Was lernen wir daraus?

      Falls die Tat in der Weise abgelaufen ist, bestätigt das eine Vermutung, die mir bereits früher kam: Der, die Täter wollten die Frau verletzen, schädigen, wollten sie bestrafen oder warnen – aber nicht töten. Umkehrschluss: Die Ärztin sollte nicht ganz aus dem Weg geräumt werden. Ein Störenfried oder Hindernis für die Erreichung eines weitergehenden Ziels ist sie nicht.

      Der Gedanke ist beruhigend, hilft aber nur wenig weiter.

      Antworten auf die naheliegenden nächsten Fragen liefern die bisherigen Erkenntnisse jedenfalls nicht. „Weshalb schädigen?“ oder „Wofür bestrafen?“ Das wäre auch zu schön und einfach?! Zumindest tun sich weiterführender Überlegungen auf.

      Ich lege die Füße auf den Schreibtisch, lasse die Wörter „Schädigen“ und „Bestrafen“ in meinem Kopf kreisen. Die alte Angst vor Schuster beseitigt, wirkt Frau Neskovaja aufrichtig ahnungslos über mögliche Angreifer und ihre Motive. Andersherum gedacht – es gibt nichts in ihrem Leben, was sie der Polizei oder mir verheimlichen will. Keinen dicken, dunklen Fleck in ihrer Vergangenheit, den sie selbst insgeheim als einen Grund oder eine verdrehte Rechtfertigung für den Überfall betrachtet.

      Für sie das Gute daran: Wenn die Verletzungen und seelischen Wunden verheilt sind, kann sie ihr Leben, womöglich in einer anderen Klinik, neu und sicher weiterleben. Wieso sollte jemand die Frau ein zweites Mal angreifen wollen? Es sei denn ... der Gedanken elektrisiert mich geradezu.

      Erpressung!

      Wenn die Täter sie zu einem Dienst nötigen wollen. Zu einer Leistung, die Frau Neskovaja nicht – oder nicht mehr? – erbringen kann oder will. Dann hätte die Sache doch sehr viel mit ihr selbst zu tun.

      Und jemand will ihr schmerzhaft klarmachen, in Zukunft gefälligst zu spuren ... oder erneut ähnlich oder noch härter bestraft zu werden.

      Das erinnert an Mafia-Methoden. Wozu könnte man sie erpressen? Zur Sex-Arbeit als Domina? Dann wären die Sex-Spielsachen keine Ablenkung für die Polizei sondern eine Aufforderung an die Frau.

      Oder geht es um ihre Tätigkeit als Ärztin?

      Damit sie Unterwelt-Verletzte zusammenflickt?

      Oder Drogen und Medikamente aus dem Krankenhaus beschafft?

      Wer derart brutal erpresst wird, weiß warum. Und schleppt eine beträchtliche Angst vor der nächsten Warnung mit sich herum. Kann jemand in der Verfassung so unbefangen meine Fragen beantworten, wie Frau Neskovaja es getan hat? Wohl eher nicht.

      Nur durchtriebene und geübte Lügner sind dazu fähig. Zudem war die Frau nicht auf meinen Besuch und meine Fragen vorbereitet, hat mir keine vorgefertigten Antworten aufgetischt. Nebenbei gibt es für mich noch einen überzeugenden Grund: mein Drittes Auge. Wenn die Frau etwas Wichtiges, womöglich Bedrohliches, verheimlichte, das ihr selbst große Angst macht, hätte in meiner Stirn eine Warnung gekribbelt.

      Auch bezüglich der Mafia-Methoden kommen mir starke Zweifel. Die Art der Verletzungen spricht dagegen. In meiner Vorstellung gehen Mafia-Täter zwar brutal vor und verhöhnen ihre Opfer auch. Aber greifen sie gezielt nur die weiblichen Geschlechtsteile an und verletzen sie? Dieses Verhalten enthält einen deutlichen Zug heftiger Wut oder Rachegelüste, die der Frau gegolten haben.

      Der Angriff als Teil einer Erpressung sagt mir nicht zu. Beachtlich: Die Täter verfügen zumindest über medizinisches Grundwissen und Zugang zu starken Blutdrucksenkern. Obwohl ... heutzutage; wer im Internet sucht, findet zu allem Möglichen Auskünfte und Handlungsanweisungen. Und kann Dinge kaufen, die gewöhnlich nicht einmal unter dem Ladentisch zu haben sind.

      Als ich meine Aufzeichnungen erneut durchblättere, stoße ich wieder auf die Notizen aus dem gestrigen „Remote Viewing“. Die weibliche Stimme! Dass sie überhaupt etwas sagt, nehme ich als klaren Hinweis. Dazu Neskovajas Gefühl im zweiten Anlauf. Ergebnis: Egal, was die nette Frau Conrad oder mein Herzblatt Corinna denken: Ich unterstelle zwei Angreifer. Und mindestens einer davon ist weiblich.

      Damit bieten sich Fragen zur Gefühlsverfassung der möglichen Täter geradezu an. Keine Nachbarn, keine Zufallsbekannten, die gemeinsam eine solche Tat begehen.

      Beide Angreifer haben eine engere, vorher bestehende Beziehung zueinander. Einmaleins der Merkmale von Zweierbeziehungen; bei solchen, die wiederholt Straftaten begehen, häufig besonders deutlich ausgeprägt: Einer gibt den Ton an, der zweite, vielleicht die zweite, hat die Neigung, zu folgen. Selbst bei einem erkennbar riskanten Vorhaben. Wenn sie das Neskovaja-Wagnis trotzdem eingegangen sind, fühlten sie sich sicher? Waren sie auf eine vorzeitige Flucht eingestellt, ein Scheitern oder gar ihre Entdeckung und Verhaftung? Jedenfalls erfordert das Vorgehen ein hohes Maß an Vertrauen zueinander. Zusätzlich verstärkt durch ein tiefes Misstrauen gegenüber der Umwelt. Von der man sich bedroht fühlt? Womöglich verbunden in Wut und Hass auf eine oder mehrere Personen, denen man etwas heimzahlen will?

       Halt, Berkamp, es reicht! Du fängst an zu spinnen. Morgen ist auch noch ein Tag.

      Ob meine Corinna oder OK Conrad während ihres Dienstes Zeit und Ruhe finden, den Fall – wie ich heute Abend – gründlich zu bedenken? Mir kommen Zweifel daran. Corinna und ähnlich spinnen? Das möchte ich erleben. Grund zur Überheblichkeit gibt es dennoch nicht. Ich habe zwar mehrere denkbare Möglichkeiten im Kopf und auf dem Papier durchgespielt und teilweise verworfen. Doch wirklich weitergekommen bin ich nicht.

      *

      Während meiner üblichen Tagesabschluss-Meditation danke ich meiner Cassandra-Intuition für ihre aufmerksame Begleitung durch den Tag. Und bin – ich gestehe es – ziemlich zufrieden mit mir. Im Einschlafen schweben meine Gedanken davon. Einmal mehr in Richtung San Francisco zu einem großen, silbernen, lächelnden Halbmond in einem nachtschwarzen Himmel über der Bucht.

      22

      Alt-Praunheim im Norden Frankfurts. Die Römerstadt-Straße schlängelt sich. Ich folge ihr, bis ich rechts in die Burgfeldstraße einbiegen kann. Der Einbahnverkehr in den schmalen Wohnstraßen macht das Durchkommen zu meinem Ziel mit dem Auto etwas mühsam. Also parke ich hinter der nächsten Schleife, gehe geruhsam mehrere hundert Meter zurück bis zu dem Doppelhaus, in dem Frau Neskovaja wohnt. Trotz des grauen Himmels ist es heute Vormittag angenehm mild. Die Luft hier riecht frisch und „grün“. Ich halte mich auf der gegenüberliegenden Straßenseite mit angrenzenden Kleingärten voller Büsche und Bäume, gehe bis zur nächsten Kreuzung und wieder zurück.

      Vor der Haustür, auf die es ankommt, scheuert eine ältere, rundliche Frau die silbrigen Frontklappen der vier Briefkästen links neben der offenstehenden Eingangstür ab. Die Frau trägt ein grüngelbes Schürzenkleid, hat schlohweiße Haare und ein auffallend rotes Gesicht.

      „Die Frau Doktor kann es ja noch net mache, ... dauernd des Geschmiere, ... rücksichtslose Bagage,“ erklärt die Frau unaufgefordert in schönstem Frankfurterisch, während ich näher trete. Vom Briefkasten links oben verschwindet ein Teil eines