Paris, 6. Dezember 1892
Der Tod des Bankiers Reinach gehört derzeit zu den Schlagzeilen in der Presse. Im Parisienne gab es den Abdruck eines aus der New York Times übernommenen Artikels, in dem die ganzen Umstände und Hintergründe aus Sicht des Auslands besprochen sind. Victor kennt eine Menge Leute, die ihr Geld in den Kanal gesteckt haben und die jetzt nicht nur auf die Rendite verzichten müssen, sondern ganz bestimmt auch ihren Einsatz verloren haben. Ich habe mich gefragt, was Frankreich mit Panama und mit dem dortigen Kanalbau zu tun haben will. Der Suez-Kanal direkt vor unserer Haustür hat einen Sinn und lässt sich auch leichter kontrollieren, weil er doch erheblich näher liegt. Im Panama-Kanal sind die Gelder der französischen Anleger versickert, ohne dass es jemand so schnell begreifen konnte. Mit dem Tod von Baron Reinach ist jetzt wohl alles verloren, denn ein Selbstmord zeigt doch, dass jemand meint, es sei alles zu Ende, es mache alles keinen Sinn mehr. Dennoch glauben wohl viele noch nicht daran und hoffen, dass eines Tages Schiffe den Kanal befahren und ihren Anteilen Profite einbringen werden. Ich bin froh, dass Victor und ich unser Geld auf der Kasse haben und wir nicht versucht sind, mit Gier zu spekulieren.
Paris, 10. Dezember 1892
Mutter ist seit dem 8. Dezember in Paris, Vater kommt erst kurz vor Weihnachten. In bin ganz froh, ein wenig mehr Zeit mit Mutter verbringen zu können, es tut richtig gut. Sie hat mir auch ein Geschenk mitgebracht, ein Vorweihnachtsgeschenk. Da sie meine Vorliebe für die Geschichten von Sherlock Holmes und Dr. Watson kennt, habe ich ein beinahe druckfrisches Exemplar der neusten Ausgabe bekommen. Es ist nicht ganz neu, was den Inhalt anbelangt, denn es ist die Sammlung aller Geschichten, die in den letzten Monaten im Strand Magazine erschienen sind. Ich habe die Hefte zusammengetragen und kann sie jetzt fortlegen, denn in dem schönen Buch sind sie alle gesammelt und es fehlen auch die Illustrationen nicht. Das Werk trägt den passenden Titel: »Die Abenteuer des Sherlock Holmes«, und ich freue mich schon, die Geschichten in dieser Aufmachung ein zweites Mal zu lesen. Mutter und ich haben schon gleich an ihrem zweiten Tag hier in Paris etwas unternommen, wir waren wieder in der Rue Jean-Goujon, bei dem doch so gerühmten Bazar de la Charité. Unser letzter Besuch liegt schon ein paar Jahre zurück, und wenn ich mich recht erinnere, sind wir seinerzeit ohne Beute nach Hause gekommen. Dies war heute anders, was sicherlich an meiner Reife als Ehefrau liegt und an dem Umstand, dass mir für die Rue Marcadet immer noch etwas einfällt, mit dem ich den Haushalt verschönern kann. So habe ich zwei Seidenschals gefunden, die sich als Dekoration für den großen Esstisch eignen, und passend dazu einen Kerzenhalter und einen Satz Serviettenringe, Letztere aus Messing und Silber und im Preis nicht zu hoch, wie ich meine. Mutter dagegen war etwas unvernünftiger und hat sich für eine Kaminuhr entschieden. Sie hat mich den Preis nicht sehen lassen, aber es waren bestimmt mehrere Hundert Francs. Die Uhr wird es Wert sein, denn sie hat ein massives Gehäuse, mit schwerem Goldbeschlag und einer Ziffernblattscheibe aus Elfenbein. Natürlich sind all diese Sachen gebraucht und würden bei einem Trödler, sofern sie dort überhaupt zu erhalten sind, um einiges weniger kosten. Den höheren Preis haben wir aber gerne bezahlt, denn er dient schließlich dem guten Zweck, für den der Basar ja stattfindet.
Paris, 20. Dezember 1892
Es ist schade, dass Victor gerade in der Vorweihnachtszeit so selten zu Hause ist. Dieser Leverne meldet sich immer zu den unangenehmen Arbeiten und gibt sie dann an Victor weiter, sie zu erledigen. Letzte Woche sollte Victor die Einladungen und das Programm für eine große Stabskonferenz ausarbeiten. Die Konferenz sollte noch diesen Monat stattfinden, so hatte es Leverne zumindest an Victor weitergegeben und Victor hat an drei Abenden bis spät in die Nacht in der Kaserne gearbeitet, um es noch zu schaffen. Dann stellte sich heraus, dass der Brigadegeneral das Treffen von Anfang an erst für den März des nächsten Jahres anberaumt hatte. Dies alles grenzt schon an Schikane. Victor lässt es sich gefallen, weil er von diesem Leverne abhängig ist. Ich hoffe nur, das Weihnachtsfest bleibt ungestört, wo wir doch auch unseren zweiten Hochzeitstag feiern wollen.
1893
Paris, 3. Januar 1893
Kurz nach Weihnachten hatten wir Besuch aus Vannes, Pierre und Jacques waren in Paris. Sie haben uns ihre neuesten Pläne mitgeteilt. Es kam völlig überraschend, die beiden wollen nach Amerika auswandern. Ihr Ziel ist New York oder Chicago. In Chicago findet in diesem Jahr eine Weltausstellung statt und es soll daher leicht sein, dort Arbeit zu finden. Schon im April wollen sie mit dem Schiff über den Atlantik fahren. Ich musste sofort an Tante Carla und Onkel Joseph denken. Beide Söhne wandern nach Amerika aus. Jacques hat sich ein paar Magazine von mir geliehen, er will unbedingt so schnell wie möglich Englisch lernen. Pierre ist davon überzeugt, vorerst auch mit seiner Muttersprache in Amerika durchzukommen, wo es dort doch so viele französische Gemeinden geben soll. Ich hoffe wir sehen die beiden noch einmal vor ihrer Abreise.
Paris, 10. Januar 1893
Ich hatte heute ein Gespräch mit Monsieur Rolland. Ich kann wieder bei ihm anfangen. Er kann mich brauchen, weil Madame Riuné ausgeschieden ist. Sie ist zu ihrem Sohn nach Marseille gezogen. Ich werde jetzt aber nur noch im Verkauf arbeiten, da während meiner Abwesenheit jemand anderes für die Buchhaltung eingestellt wurde. Wenn ich ehrlich bin, dann ist mir das eigentlich ganz recht. Ich soll schon in der nächsten Woche beginnen, gleich am Montag.
Paris, 20. Januar 1893
Die erste Woche im Juwelierladen ist vorüber. Ich habe mich sehr schnell wieder eingefunden. Es scheint fast schon von Vorteil für mich zu sein, dass Madame Riuné fort ist. Es ist nicht so, dass ich sie nicht gemocht hätte, aber ich bin ohne sie viel gelöster. Ich habe keine Angst mehr, Fehler zu machen. Madame Riuné hat immer sehr darauf geachtet, Monsieur Rolland ist da weit weniger streng. Er lässt mich gewähren und ich zahle es ihm zurück, indem ich mit Erfolg verkaufe. Das ist mir auch schon gleich in dieser ersten Woche gelungen. Monsieur Rolland und ich haben uns die Kunden aufgeteilt. Er bedient vor allem die Damen und ich zumeist die Herren.
Paris, 1. Februar 1893
Gestern Abend ist Victor ganz aufgelöst vom Dienst gekommen. Er hat sich erst nichts anmerken lassen, ist dann aber doch damit herausgekommen. Er hatte ein unangenehmes Gespräch mit diesem Leverne, es ging um Victors Vergangenheit. Leverne wusste alles, alles über Victors Vater, über Victors Zeit in Saint-Cyr, über seinen Aufstieg zum Lieutenant und über die Zeit bei Colonel Dubois. Leverne besaß sogar eine Liste der Einsätze, die Victor in Nantes geleitet hat. Dies alles ist wohl nicht so schlimm, schlimmer ist es, dass Leverne behauptete, Victors Mutter sei Jüdin gewesen. Victor weiß überhaupt nicht, woher dies kommt, mit welchem Recht dieser Leverne so etwas behaupten kann. Leverne hat Victor dann noch auf das Genaueste befragt und gerade dies fand Victor so empörend. Aber Victor konnte natürlich nicht aufbegehren, er ist von dem Mann abhängig. Das Gespräch endete mit der Befragung, aber Victor vermutet, dass noch etwas nachkommt. Es muss eine Absicht dahinterstehen, dass Leverne sich so genau über ihn erkundigt hat und dass dies nichts Gutes sein kann.
Paris, 17. Februar 1893
Ein ganzer Packen des Strand Magazines ist jetzt bei mir eingetroffen. Mutter hat gut aufgepasst und entdeckt, dass Mr. Doyle wieder aktiv geworden ist und für seinen Holmes neue Abenteuer erdichtet hat, obwohl, ist es wirklich Dichtung, ist es nicht vielleicht doch Wahrheit und Mr. Doyle selbst ist Sherlock Holmes oder gar Dr. Watson. Vielleicht ist alles in der einen oder anderen Weise so geschehen. Ich könnte es mir gut vorstellen. Jetzt liegen mir jedenfalls drei neue Geschichten vor und ich habe Mutter geschrieben, sie solle weiterhin wachsam sein und am besten das Strand Magazine für mich abonnieren.
Paris, 3. März 1893
Ich sehne dem Frühling entgegen. Paris im Frühling war mir von jeher der schönste Ort und die schönste Jahreszeit. In vier Wochen ist Ostern, ich freue mich schon