Der ganz 'normale' Alltag. Norbert Dinter. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Norbert Dinter
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748536581
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sitze an meiner Kasse im Supermarkt und sehe wieder diesen blonden, blauäugigen Jungen, der mir vor ein paar Tagen zum ersten Mal aufgefallen ist, als er sein Leergut bei mir abgab. Ich beobachte, wie er elegant durch den Laden geht und seine Waren zusammensucht. Mit seiner intensiven Sonnenbräune und den stark gebleichten Haaren erweckt er nicht nur meine Aufmerksamkeit, denn die lauen Außentemperaturen dieses Frühlings laden gewiss noch nicht zu einem Sonnenbad ein. Mit einem freundlichen Lächeln auf den schmalen Lippen bettet er seinen Einkauf auf das Fließband meiner Kasse und begrüßt mich höflich.

      Während ich seine Waren über den Scanner zieh, überlege ich krampfhaft, wie ich ihn in ein Gespräch verwickeln könnte. Zu gern würde ich ihn näher kennenlernen, aber wieder fehlt mir der Mut. Oder ist es nur meine Angst, dass ich ihn nachher nicht wiedersehen könnte? Die Angst, meine Offenheit könnte ihn nicht nur gegen mich, sondern auch gegen meinen Arbeitgeber aufbringen?

      Als er eine Flasche Bier auf das Transportband stellt, kommt mir der Gedanke, ihn nach seinem Ausweis zu fragen. Dann könnte ich seinen verwunderten Blick und sein offenes Geständnis, er habe ihn nicht dabei, damit beantworten, das ich feststelle: 'Schade, so werde ich Ihren Namen jetzt wohl doch nicht erfahren.'

      Doch stattdessen hülle ich mich in Schweigen und nenne nur den Betrag, den er zu zahlen hat. Für einen kurzen Moment treffen sich unsere Blicke, während er mir das Geld gibt, und wieder lächelt er mir zu. Am Liebsten würde ich ihn auf der Stelle an mich drücken und nicht mehr loslassen, doch der nächste Kunde wartet schon.

      Noch ist der Jüngling nicht aus dem Laden gegangen, denn das einpacken seines Einkaufs beschäftigt ihn eine Weile. Mir kommt die Idee, ihm zu sagen, dass er etwas vergessen habe. Und wenn er sich erkundigt, was das sei, werde ich feststellen, dass er vergaß, mir seine Adresse und seine Telefonnummer zu geben.

      Doch schon nimmt er seine Tasche hoch und verabschiedet sich. Wieder einmal habe ich meine Chance verpasst. Und so sitze ich da, träume von ihm und warte darauf, dass er mit einer Freundin erscheint oder dass er einmal den Mut findet, mich anzusprechen.

      Begegnungen

      Bedächtig las Lotte das Wechselgeld an der Kasse des Supermarktes auf und ließ es in ihr abgegriffenes Portemonnaie gleiten. Hinter ihr wartete Kathy darauf, dass ihre Vorgängerin endlich das Fließband freigab, damit auch sie ihren Einkauf bezahlen konnte.

      Mit einem abfälligen Blick musterte Kathy Lottes farblose Erscheinung. Es war offensichtlich, dass die Jahre nicht spurlos an dieser Frau vorübergingen. Ihre grauen Haare hingen strähnig um das hagere, faltige Gesicht. Die dunkle Kleidung wirkte abgestoßen und schäbig.

      "Was ist nur aus ihr geworden?" dachte Kathy. "Wie kann man sich nur so gehen lassen? Sieh' Dir nur diese alten Klamotten an, die sie trägt. Vollkommen unmodern. Und ihre Haare. Ein richtiger Fettkopf. Aber das ist so typisch Lotte. Die hat ja noch nie viel auf ihr Äußeres gegeben. Und uns lag sie ständig damit in den Ohren, dass sie keinen Freund hat.

      Aber dann hat sie diesen Walter kennengelernt. Mein Gott, war das ein Dödel. Ja, Lotte; Nein, Lotte; Wie Du willst, Lotte. Fünfunddreißig - oder waren es sogar vierzig - Jahre hat ihre Ehe bestanden. Dann ist er gestorben. Wahrscheinlich hat er sich todgesoffen. War doch sowieso das Einzigste, was er gut konnte. Außer Kindermachen natürlich.

      Lotte war doch ständig schwanger. Hat ihre ganze Figur durch die Bälger kaputtgemacht. Richtig unförmig ist sie geworden. Na ja, hübsch war sie ja nie."

      Schnippisch rümpfte Kathy noch kurz die Nase, ehe sie sich der Kassiererin zuwandte und sie um Wiederholung des genannten Betrages bat.

      Aus den Augenwinkeln beobachtete Lotte, wie Kathy das Geld abzählte.

      "Was hat sie sich heute wieder herausgeputzt." ging es ihr durch den Kopf. "Sie sieht aus, als wollte sie zu einem Maskenball. Das Gesicht angemalt wie ein Clown, und ein Fähnchen an, wie ein junges Küken. Irgendwie sollte man sich doch altersgerecht kleiden.

      Aber so war Kathy ja schon immer. Herausgeputzt wie ein Pfingstochse. Und den Jungs schien es zu gefallen. Ständig hing ein ganzer Schwarm an ihren Fersen.

      Sie konnte sich gar nicht entscheiden, wessen Antrag sie annehmen sollte. Kein Wunder also, das sie es nachher auf drei Scheidungen gebracht hat. Wahrscheinlich wären es noch mehr geworden, wenn sie nicht diesen reichen Harry geheiratet hätte. Nach dessen Tod brauchte sie keinen Trauschein mehr, um ihren Spaß zu haben. Vielleicht durfte sie ja auch nicht mehr heiraten. Es gibt doch solche Klauseln in Testamenten, die das verbieten.

      Oder sie hatte keine Zeit. Die ist doch ständig auf 'm Trip gewesen. Mal 'n Wochenende in London, eine Woche Paris, Urlaub auf Ibiza oder Bildungsferien in Amerika. Und wenn sie mal Zuhause war, pendelte sie zwischen Partys und Veranstaltungen hin und her. Ob Tennis, Reiten oder Schlittschuhlaufen, alles hat sie ausprobiert. Selbst jetzt ist sie immer noch auf Achse.

      Nee, dat wär' kein Leben für mich."

      Langsam nahmen beide Frauen ihre Einkäufe hoch und strebten dem Ausgang zu.

      Für einen kurzen Augenblick schoss beiden derselbe Gedanke durch den Kopf:

      "Mein Gott, wenn man bedenkt, dass wir als Kinder einmal Freundinnen waren."

      Erinnerungen an Ruth

      Robert Weber hatte gerade das Paket mit seinen Waren in den Arm genommen, als er im Supermarkt mit einer jungen Frau zusammenstieß.

      "Passen Sie doch auf, Sie Tölpel!" fuhr ihn die füllige Blondine an.

      "Entschuldigen Sie, Ma'am, aber..." Erst jetzt sah er die Frau genauer an. Und auch ihr schien es wie ihm zu gehen, als sie sich zu ihm umdrehte.

      "Robert, Robert Weber?" sprach sie ihn an. Ihre blauen Augen musterten ihn fragend.

      "Ja," bestätigte er. "Und Du bist doch Ruth Klein."

      "Richtig!" Über ihr hübsches Gesicht huschte ein Lächeln. "Wir haben uns ja eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Wie kommst Du denn hier her?"

      "Nun, ich besuche gerade meine Mutter, und da sie mich darum bat, bin ich eben für sie einkaufen gegangen." erklärte Robert.

      "Ja, Deine Mutter." Ruth wirkte nachdenklich. "Ich treffe sie manchmal in der Stadt oder beim Einkaufen. Wie sie mir erzählte, hast Du inzwischen geheiratet?"

      "Ja, Mary-Jo. Sie ist gerade bei ihr."

      "Aha, sie ist also auch da."

      "Ja, sicherlich."

      "Na ja, was soll's auch." Ruth zuckte mit den Schultern.

      "Du hast Dich auch wieder verlobt?" interessierte es Robert.

      "Ja, letzten Herbst." nickte sie.

      "Kenn' ich ihn?" wollte er wissen.

      "Ja, ich glaub' schon." vermutete Ruth. "Bernd Schneider heißt er."

      "Was, der Lackaffe?" entfuhr es Robert.

      "Ja, der Lackaffe!" schmollte sie.

      "Wie kommst Du denn ausgerechnet an den?" wunderte er sich. "Ich dachte, Du kannst ihn nicht ausstehen?"

      "Nun, er war eben da, als ich jemanden brauchte." entgegnete sie. "Und mit der Zeit haben wir uns immer besser kennengelernt und wissen nun, was wir voneinander halten und erwarten können."

      "Und wann wollt Ihr heiraten?"

      "Vielleicht nächstes Jahr. Wir werden sehen, wie es klappt."

      "Ja, wahrscheinlich." stimmte er zu.

      "Bist Du mit dem Wagen da?" erkundigte sie sich.

      "Nein, ich bin zu Fuß. Soll ich Dich ein Stück begleiten?" schlug er vor.

      "Wir haben doch sowieso den selben Weg." bemerkte sie. "Wart' nur, ich hol' eben mein Fahrrad."

      Einen Moment gingen sie schweigend nebeneinander her.

      "Und, wie gefällt's Dir dort drüben?" brach Ruth das