Die beiden Frischvermählten träumten schon lange von einem Haus an der Westküste der USA, wo sie es sich wärmer und sicherer vorstellten. Sie hatten genug von ihrer Heimat, mehr denn je wegen der Drohung Eisenhowers, einen Atomkrieg anzuzetteln. Also setzten sie alles daran, so schnell wie möglich in die Staaten emigrieren zu können. Sie versuchten, sich ein neues, freieres Heim aufzubauen, wie viele andere Familien damals. Die meisten ihrer Freunde waren bereits ausgereist, vor allem in die DDR, nach Westdeutschland oder nach Israel. Irgendwann schafften es die beiden auch wirklich, genug Geld zusammen zu sparen, um sich vier gefälschte Pässe (zwei für ihre noch ungeborenen Wunschkinder) und den Flug leisten zu können und sogar ein wenig Startkapital zu haben.
Sie kamen planlos und überwältigt in den Staaten an, Kurts Mom mit ihm selbst hochschwanger. Kurts Dad fand bald einen schlecht bezahlten, harten Job als Bauarbeiter, den er zwar ungern machte, aber keine andere Wahl hatte. Bald zogen sie von einem billigen Motelzimmer in eine kleine Studentenwohnung am Rand von Los Angeles.
Kurt bekam von all diesen Schwierigkeiten nicht viel mit - er wuchs, wie der Großteil aller Kinder, in seiner eigenen, kleinen, aber doch unendlich großen Welt in seinem Kinderkopf auf, die von neuen, aufregenden Abenteuern nur so strotzte. Egal, wie viel oder wenig sie sich leisten konnten, Kurt wurde als kleines Kind nie langweilig. Etwa ein Jahr nach seiner Geburt wurde Kurts Mom zum zweiten Mal schwanger und von Dad immer wieder verprügelt, weil sie sich, wie er meinte, kein zweites Kind leisten konnten und der Zeitpunkt gerade überhaupt nicht passte. Daddy meinte, Mom sei schuld an ihrer Schwangerschaft. Er war nervös. Er brauchte ein Ventil, auch wenn er trotz ihrer Geldsorgen selbst ein zweites Kind wollte. Kurt merkte davon nichts, außer dass er beobachtete, wie Moms Bauch langsam größer wurde und sie sich, wie sie meinte, öfters an irgendwelchen Kästen gestoßen hätte.
Kurt hatte liebevolle Eltern, wenn man Dads sporadische Wutanfälle nicht mit zählte. Seine Mom wollte nur sein Bestes. Er hatte sich später zwar nie richtig an seine Kindheit erinnern können, doch er hätte sie im Großen und Ganzen wohl für schön und erfüllt befunden - bis er langsam ein individuelles Bewusstsein entwickelte und seine Umwelt plötzlich völlig anders wahrnahm. Der schöne Teil seiner Kindheit hörte auf, als er erkannte, dass er nicht der Mittelpunkt des Universums war, sondern dass es noch so viele andere Menschen um ihn herum gab, die alle unabhängig von ihm existierten und arbeiteten und weinten und Spaß hatten.
Und Kurt lernte dies bedeutend früher als jeder andere, den er kannte.
3
Kurt war mit acht Jahren ein recht mittelmäßiges Kind gewesen. Er war durchschnittlich gut in der Schule, hatte durchschnittlich viele Freunde und 'Feinde' unter seinen gleichaltrigen Schulkollegen, heckte zwischendurch einen Streich aus und benahm sich aber trotzdem die meiste Zeit höflich, wie es ihm von seinen Eltern beigebracht wurde.
Doch als er seinen neunten Geburtstag feierte, passierte etwas. Irgendetwas veränderte sich. Kurt begann, seine Umwelt nicht mehr mit den verschleierten, erstaunten Augen eines Kindes zu sehen, sondern begriff – schrittweise, kontinuierlich mit jedem Tag mehr – die wahre Realität um ihn herum. Er begann, die Fehler in dem perfekten Mosaik zu sehen, als das er sein Leben und die ganze Welt bis jetzt betrachtet hatte. Er verstand, wie normal seine Familie wirklich war, wie unperfekt. Warum dies geschah, verstand er nicht, aber er konnte es nicht aufhalten. Es machte ihn traurig, ein Psychologe hätte es depressiv genannt.
Kurts Vater hatte seit damals einen neuen, schlecht bezahlten Aushilfsjob, seine Mutter war den ganzen Tag - mit gestohlenen Schmerzmitteln vollgepumpt - zuhause und Kurt spielte draußen mit anderen Kindern, die ihn abgrundtief hassten. So normal war also sein Leben.
Eine der vielen unbewussten Dinge, die Kurt schon als Kind registrierte, war, dass er plötzlich nur mehr die Schattenseite aller Menschen sah - was ihrer Meinung nach in ihrem Leben falsch lief und die Wut darüber. So sah sein neues Weltbild aus und es widerte ihn an.
Diese besagten Schulkinder hänselten Kurt in den kommenden Wochen oft. Sie schienen die Veränderung in ihm zu spüren und sie gefiel ihnen überhaupt nicht – sie hatten insgeheim Angst vor Kurt oder verabscheuten ihn ... oder sie machten ihn einfach so aus Spaß nieder. Menschen haben seltsamerweise immer Angst vor Veränderung. Wobei Kurt dann meistens keine andere Wahl hatte, als vor den Schlägern wegzulaufen, was ihm klarerweise enormen Respekt unter seinen Schulkollegen einbrachte (ungefähr soviel wie dem Klassenstreber mit einer 10-Dioptrien Hornbrille, exzessiv durch gefetteten Haaren im Seitenscheitel-Look und orthopädischen Korrekturschuhen).
Er war ein Kind, dass die Bosheit und die Frustration anderer Menschen zwar wahrnahm, aber nie verstand - und schon gar nicht hinterfragte. Möglicherweise war er dafür zu dumm, zumindest aber zu pragmatisch. Er dachte nicht darüber nach, dass es einen Grund dafür geben könnte, und schon gar nicht, was dieser Grund sein konnte. Er glaubte, dass alles gerecht abliefe und jedem außer ihm selbst sowieso alles geschenkt würde, so naiv wie er noch war. Das machte ihn neidisch. Aber er wusste nicht, was er dagegen machen sollte.
Andererseits war Kurt ein Kind, das ein sehr gutes Gespür für die Gedanken und Gefühle anderer hatte. Vielleicht wäre er ein brillanter Psychologe geworden, sogar ein neuer Sigmund Freud, wenn er nur die Chance dazu gehabt hätte; die Zeit, das Geld und den Willen zur Ausbildung. Aber wir wollen nicht abschweifen...
Kurt erfuhr mittlerweile täglich Geringschätzung, Herablassung und Erniedrigung. Seine Mitschüler jagten und verhauten ihn, seine Eltern hatten nichts als Nörgeleien für ihn übrig, seine Lehrer beschwerten sich über seine Noten, die sich dramatisch verschlechterten. Es ging ihm offensichtlich rundum gut!
Natürlich ging dies alles ganz und gar nicht spurlos an Kurt vorbei. Aber wie wohl jedes andere Kind in seinem Alter und seiner Situation dies getan hätte, verdrängte er es. Alles.
Nun, naja, fast alles.
Er war der typische genetisch und psychologisch vorprogrammierte Verlierer, der sich schon so an eine tägliche Abfolge von Enttäuschungen gewöhnt hatte, dass er in seiner infantilen Naivität ein Spiel daraus machte, wie viel Bevormundungen und Zurechtweisungen und Entwürdigungen er am Tag aushalten konnte, bis er kurz vor den Tränen war.
Er war in diesem Spiel der ungeschlagene Champion gewesen. Aber er bekam leider nie eine Medaille...
4
Dann gab es da noch Kurts Bruder Paul, der ein Jahr jünger als er war.
Paul war interessanterweise größer gewachsen und muskulöser als der schlaksige, kleinwüchsige Kurt und musste seinen großen Bruder jedes Mal vor den nimmermüden Schulverfolgern und darauf folgenden Abschürfungen und Knochenbrüchen retten. Seltsam, nicht? Tja, dies wiederum ließ Kurt noch lächerlicher erscheinen und ihn zur absoluten Witzfigur der Schule und des Viertels, in dem sie wohnten, avancieren.
Alle diese heldenhaften Rettungsaktionen waren jedoch in Wahrheit nur Teil von Pauls eigenem, sadistischen Teufelskreis, den dieser um Kurt spann. Nicht nur, dass Kurt sich wehrlos verprügeln ließ, er ließ sich von seinem jüngeren Bruder retten, der stärker als er selbst war. Das war wirklich der Brüller in seiner ganzen Klasse gewesen.
Paul war abgrundtief bösartig, obwohl niemand einen Grund für seinen Hass heraus gefunden hätte.
Die ganze Sache wurde wohl durch die Tatsache noch skurriler und komischer, dass Paul seinen großen Bruder absichtlich - also genau aus diesem Grund, dass alle Kurt nur noch mehr verachten würden – rettete. Nicht, weil er sein Bruder war, sondern weil sie ihn verachten sollten. Weil Kurt ein Würstchen war, ein Verlierer. Weil jeder ihn verachten sollte. Verdammt noch mal alle.
Paul war wirklich ein kleiner Teufel.