Ost und West. Magnus Dellwig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Magnus Dellwig
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847607243
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Abwechselnd blickte sie Hans und Paula mit ein wenig schüchternem Gesichtsausdruck an. Paula schwieg. Sie wusste, dass Hans letztes Wort noch nicht gesprochen war.

      >>Ach Mutter! Ich habe keine Lust mehr, mir immer dann den Mund verbieten zu lassen, wenn es um die Politik im real existierenden Sozialismus geht. Du und Paula, ihr haltet euer schützendes Händchen aber auch über wirklich alles, was von dieser Bande alter Kommunisten in Berlin verkündet wird. Sicher, ihr seid gute Sozialisten. Das will ich überhaupt nicht bezweifeln.

      Aber ich, Mutter, und darauf bestehe ich, bin ein genauso guter Sozialist, auch wenn ich das Gehirn nicht abschalte bei allem, was im Neuen Deutschland steht. Ich bin dankbar für alles, was unser Land und die SED für mich tun, keine Frage. Aber die zukünftige Intelligenz unserer Deutschen Demokratischen Republik, und zu der soll ich ja eurer Meinung nach irgendwann einmal unbedingt gehören, wird unsere Zukunft nicht besser machen, wenn sie zu allem Ja und Amen sagt. Der Fortschritt muss von unten wachsen! Die Kreativität, die Energie und die Lebensfreude jedes überzeugten jungen Sozialisten, das ist unser Kapital von morgen! Und was tun diese Ignoranten im Politbüro? Sie verbieten Bücher und Musik, verteufeln alles, was jenseits des so genannten Eisernen Vorhangs passiert. - Wenn das so weitergeht, dann frage ich mich allen Ernstes, was ich für dieses Land überhaupt noch tun kann. Wofür soll ich Jura studieren, wenn Gesetze in diesem Land letzten Endes keine Rolle spielen, sondern nur noch der Wille der Partei und der Staatssicherheit? Und warum sollte ich in die SED eintreten, wenn man in dieser Partei nicht diskutieren darf, sondern nur am 1. Mai aufmarschieren soll?<<

      Paula hatte sich das damals alles ganz in Ruhe angehört. Und noch heute, dreißig Jahre später, hier am Kaffeetisch, an demselben Tisch, an dem sie endlich wieder demselben Bruder gegenübersitzt, begreift sie immer noch nicht, wie sie damals so unglaublich cool bleiben konnte.

      >>Aber Hans, keiner will dir hier den Mund verbieten. Und keiner von uns zweifelt auch nur im Geringsten an deiner guten, aufrichtigen sozialistischen Überzeugung.<<

      Bestätigendes Kopf-Nicken aus milde dreinblickenden Gesichtern der Mutter und von Tante Elfriede schlug Hans und Paula entgegen. Deshalb sagte sie zu sich: Nur schnell weiter reden, bevor Hans endgültig der Kragen platzt.

      >>Aber andererseits wollen wir doch alle hier, bei uns im Dorf, im schönen Thüringen glücklich werden. Und weil es sich für mich in deiner Rede beinahe so anhörte, als sei dieses Land nicht mehr so ganz dein Land, möchte ich dazu noch etwas sagen: Viele, verdammt viele und viel zu viele gehen jedes Jahr über West-Berlin in den Westen. Ob unsere Republik dabei allmählich ausblutet, will ich jetzt einmal dahin gestellt sein lassen, denn das ist jetzt nicht mein Punkt. Viel wichtiger für alle, die da gehen und meinen, sie kämen in eine bessere Welt, ist etwas ganz Anderes: Da drüben jenseits der Grenze im kapitalistischen Teil Deutschlands gibt es freie Wahlen, so genannte freie Gewerkschaften. Und es gibt sogar eine SPD. Aber die hat nichts zu sagen, sondern die CDU dieses Reaktionärs Adenauer, der alles daran setzt, den Amerikanern zu gefallen.

      Doch selbst falls einmal andere Tage in der BRD kommen sollten und Ollenhauers SPD die Bundesregierung stellen dürfte, ja was passierte denn dann? Es würde sich nichts wirklich Grundlegendes ändern! Das Kapital bliebe unangetastet, Abrüstung und Austritt aus der Nato ein ebenso frommer Wunsch. Gerechtigkeit für die Arbeiterkinder, freier Zugang zum Studium, selbst das bliebe ein Wunschtraum. Hans, alle, die heute in den Westen gehen, werfen früher oder später ihre sozialistischen Ideale von Brüderlichkeit und Gerechtigkeit über Bord. Stattdessen beißen sie sich ganz für sich alleine durch. - Im Westen, in der so genannten Demokratie der Parlamente wird es nie einen echten Sozialismus geben! - Weil es nie Mehrheiten dafür geben wird, die Verfassung zu ändern, um die Herren über das Kapital wirklich im Interesse der Werktätigen dafür verantwortlich zu machen, dass alle Arbeit haben und es ihnen dabei auch noch gut geht.<<

      Hans saß da, auf dem Stuhl, auf dem heute seine Frau Johanna sitzt. Einen Moment lang schwieg er. Dabei sah er unentwegt Paula in die Augen, so als habe er vollkommen vergessen, dass noch andere an der Kaffeetafel von damals Platz genommen hatten.

      >>Und du glaubst wirklich, was du da sagst? Woran soll es denn nach der Meinung meiner ach so neunmal klugen kleinen Schwester liegen, dass es im Westen niemals so etwas wie einen Sozialismus geben könne, der die freie Äußerung der Gedanken mit der Gerechtigkeit vereint und versöhnt?<<

      Irgendwie hatte Paula damals auf diese oder eine ähnliche Frage gewartet. Innerlich triumphierte sie. Und sie befürchtete damals, ihr Bruder könne das von ihren schmunzelnden Wangen ablesen. Doch diese Sorge war vollkommen unbegründet, weil Hans zu sehr von sich überzeugt war, und davon, dass Paula nun nicht würde schlagfertig kontern können.

      >>Die Frage rührt an die Grundfesten unserer Ordnung im besseren Teil Deutschlands, Hans. Meine Meinung ist da ganz klar: Der Weg zum Sozialismus wird nur funktionieren, wenn wir uns über schnöde materielle Interessen und über ideologische Hürden, über die Scheren in den Köpfen der bei uns entmachteten Bourgeoisie hinwegsetzten. Das passiert jetzt seit Jahren. Die Bauern und die Handwerker mussten in die Genossenschaften hinein. Und die Beamten, die Lehrer und die Professoren dürfen einfach nichts mehr lehren und tun, das den Interessen der Arbeiterklasse widerspricht. - So weit wird es im Westen niemals kommen. Das liegt nun daran, dass es da nie die Mehrheit für echte Änderungen des Grundgesetzes geben wird. Es liegt aber noch mehr daran, dass in der so genannten pluralistischen Gesellschaft der Anreiz für jeden Einzelnen doppelt so groß ist wie im Sozialismus, egoistisch zu sein und sich um die Zukunftsfragen einen Dreck zu scheren!<<

      Beinahe ungläubig lässt sich Paula ihre letzten Worte von damals noch einmal auf der Zunge zergehen. - Und das hast du damals tatsächlich geglaubt? Ja sicher. Das war es doch, warum Mutter und ich uns so himmelhoch über Hans erhaben fühlten, nachdem er gegangen war. Er hatte den Sozialismus verraten! Das glaubte ich damals ganz fest.

      Und heute? Paula zwingt sich dazu, sich selbst eine kurze Antwort zu geben, bevor sich ihre Aufmerksamkeit wieder der Unterhaltung am Tisch zuwendet. Heute bin ich desillusioniert! Ich weiß, dass die Herrschaft der Partei nicht zum Sozialismus, sondern zur Erstarrung, zum Überwachungsstaat geführt hat. Aber trotzdem habe ich mir einen ganz anderen Optimismus erhalten, der auch etwas mit der Lebenseinstellung der echten Sozialistin zu tun haben muss. Den Optimismus nämlich, dass der Sozialismus nur entstehen kann, wenn genügend Menschen dafür kämpfen und daran glauben, und zwar mit friedlichen Mitteln. Und das wird für die Zukunft nur noch gelingen, wenn die Freuden des Kapitalismus ganz allmählich, wie über den Perfusor, in unseren Alltag eindringen, unsere Ideale nicht auf einen Schlag zu zersetzen vermögen. Stattdessen muss es einfach gelingen, den Elan von Montagsdemonstrationen und Runden Tischen zu erhalten, um eine neue, menschlichere und zugleich demokratische Gesellschaft aufzubauen. Ich hoffe nur, dass es dafür nach dem Fall der Mauer durch die nicht mehr zu übersehende Selbstaufgabe der SED nicht schon zu spät ist.

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