Meine Mutter ist stehen geblieben. Ich sehe ihr mit meinem ganzen Schmerz ins Gesicht. Und dann, was sehe ich? Meine Mutter weint auch. Sie drückt mich an sich. Wir gehen ganz langsam die paar Schritte, bis wir zu Tante Elfriedes Haus kommen. Meine Mutter klopft an. Nach wenigen Sekunden öffnet sich die Türe. Und jetzt passiert es. Tante Elfriede sieht sehr ernst aus. Sie kneift die Lippen zu einem schmalen Spalt zusammen. Dann schüttelt meine Mutter ganz leicht, langsam, bedächtig den Kopf.
Aus meiner Mutter bricht der Schrei eines Nein! hervor, wie ich bis dahin und auch seitdem niemals wieder ein menschliches Geräusch gehört habe. Dann bricht sie in lautes Schluchzen aus. Sie lässt meine Hand los. Petra immer noch auf dem Arm haltend fällt sie ihrer Schwester in die Arme. Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, bis dieses entsetzliche Weinen aufhört. Endlich lassen sich die beiden Frauen los. Meine Mutter wischt sich ganz bedächtig die Tränen aus den Augen und von den Wangen. Dann sagt sie mit leiser Stimme: >>Elfriede, Gustav ist gefallen.<<
Jetzt aber dreht meine Mutter ihren Kopf nach links und sieht zu mir hinunter. Mit einem unendlich sanften Gesicht, einem leichten Lächeln um die Mundwinkel, um dem was folgt, wenigstens eine Spur seiner endgültigen Härte zu nehmen, sagt sie dann zu mir: >>Hans, Papa ist tot!<<
Ich spürte im Hals, wie mir die Luft wegblieb. Und dann habe ich mich an den Rock meiner Mutter geklammert. Ich fing an zu zittern. Und dann habe ich geweint. Von meinen Knien spürte ich auf einmal nichts mehr. Aber tatsächlich schlotterten meine Beine nur noch so, ohne dass ich sie unter Kontrolle bringen konnte."
Hans ist an dem ehemaligen Haus seiner Tante vorbeigefahren, rechts um die nächste Straßenecke auf den Kirchplatz gebogen und hält dort an. Während er spricht, blickt er unentwegt stur geradeaus. In Hans Augen stehen ein paar Tränen. Er sieht aus der Windschutzscheibe über den tristen Platz mit seinem feucht-dunkelgrauen Kopfsteinpflaster zur Kirchentüre hinüber. Alte Eiche, aber nicht mehr in gutem Zustand, etwas bemoost und schon ziemlich verwittert. So ist das eben im Sozialismus, denkt sich Hans. Ihm wird bewusst, dass er hier nicht alleine im Auto sitzt. Seine Gesichtszüge, eine Mischung aus Versteinerung und Entrücktheit, lösen sich. Hans sieht zuerst seine Frau an und dann, verbunden mit einer Drehung seiner Schulter um 90 Grad nach rechts, Christian und Petra auf den Rücksitzen. Ein leichtes, verkrampftes Lachen folgt.
"Ihr seht, es ist nicht ganz leicht, Heim zu kehren. Ich will euch in den nächsten zwei Tagen möglichst von solchen sentimentalen Ausflügen in die Vergangenheit verschonen. Doch in Wirklichkeit weiß ich, dass ich euch nicht versprechen kann, ob das vollständig gelingen wird."
Er lächelt. Johanna drückt Hans die Hand. Sie lächelt zurück.
"Auch dafür sind wir hierher gefahren. Vor uns brauchst du dich für nichts zu schämen; erst recht nicht für Gefühle, dafür, dass dich so manche Erinnerung aufwühlt, oder auch schon mal wehtun kann."
"Und wenn du von heute bis Montag irgendwann das Bedürfnis haben solltest, mit deiner Schwester ganz allein zu sein, weil diese Dinge in letzter Instanz nur dich und sie etwas angehen, dann sag uns Bescheid, Papa. Es ist schon O.K., wenn du uns dann ganz einfach rausschmeißt."
Petras Worte machen Hans Herz vom einen auf den nächsten Augenblick wieder leicht. Jetzt lächelt er nicht nur, sondern zwischen den Lippen kommen sogar einige weiße Zähne zum Vorschein. Hans nimmt ein Papiertaschentuch aus dem Handschuhfach und wischt sich die Tränen aus den Augenhöhlen. Dann legt er den ersten Gang ein und fährt an.
"Auf, auf zu meiner Schwester Paula. Die warten jetzt bestimmt schon auf uns. Lasst uns, lasst mich der Erinnerung, der Wahrheit ins Gesicht sehen! So weh es auch tun wird. Viel schlimmer wäre es, dem Wiedersehen aus dem Weg zu gehen, aus purer Bequemlichkeit, um nur ja die Vergangenheit um mein Weggehen von hier nicht mehr an mich herankommen lassen zu müssen."
Kapitel 2: Wiedersehen
Beinahe schon am Ortsrand von Großrettbach liegt das kleine Häuschen seiner Kindheit: Silbergasse 14. Eingekeilt zwischen zwei großen Höfen erkennt Hans es sofort wieder. Fachwerk, auf einem gemauerten Sockel aus Bruchsteinen. Die Querbalken sind im Laufe der drei Jahrhunderte, in denen das kleine Häuschen die Familie seiner Mutter beherbergt hat - freie Forstarbeiter, die immer am Rande der Armut leben mussten, aus dem Lot geraten. Erstaunlich, wie Paula das geschafft hat, unser Häuschen so in Schuss zu halten. Beim Näherkommen empfindet Hans Respekt vor seiner Schwester, die in Zeiten sozialistischer Mangelwirtschaft offensichtlich permanent findig genug war, in das Haus zu investieren, die Fassade und das Dach in Schuss zu halten.
Hans sagt das auch so zu seiner Familie, während er auf der gegenüberliegenden Straßenseite einparkt.
"Nicht nur als überzeugte Sozialistin, die an das Gute im Menschen glaubt - selbst bei den Mitgliedern des Politbüros der SED - ist meine Schwester eine bemerkenswerte Frau. Das gilt offensichtlich ebenso für manche profanen Dinge des Lebens. Denn wie sonst hätte sie es schaffen sollen, das Häuschen unserer Familie über die letzten drei Jahrzehnte der Planwirtschaft von Günther Mittag zu retten. Alle Achtung! - Jetzt wird es aber Zeit, Ihr Lieben, dass ihr Paula auch endlich kennen lernt."
"Das gleiche gilt für dich doch wohl auch, Hans! Oder glaubst du wirklich die Paula von heute wäre noch dieselbe wie die Jugendliche von damals, wie sie sich in deine Erinnerung eingegraben hat?"
Johannas Bemerkung macht Hans nachdenklich. Doch er ist vergnügt. Denn jetzt will er Paula wieder sehen, und zwar sofort. Er öffnet die Wagentüre und steigt aus. Johanna und die Kinder folgen. Auf der Straße streckt Hans zuerst einmal seine Arme lang gen Himmel aus. Es nieselt ganz leicht. Er atmet die feuchte Novemberluft tief ein. Ein herrlicher Duft von Nadelwald umgibt ihn.
"Ach ja. Ist schön hier."
Hans wechselt auf die andere Straßenseite und geht auf die alte, palisander-schwarz gestrichene Holztüre zu. Um dort hindurch zu kommen, wird er sich bücken müssen, meint Hans. Er klingelt. Im Innern des Hauses ertönt deutlich vernehmbar ein schrilles Rasseln einer jener fürchterlichen Schellen, wie sie auch beinahe jeder West-Haushalt in den 70ern sein eigen nannte.
Die Türe wird geöffnet und Hans blickt in einen von zwei elektrischen Lampen hell erleuchteten Flur. Vor ihm steht eine schlanke, beinahe zierliche Frau von vielleicht ein Meter fünfundsechzig. Die Haare sind bereits leicht ergraut; das hätte Hans nicht erwartet. Doch er macht sich klar, dass seine Schwester natürlich auch schon fünfundvierzig ist. In dem schmalen Gesicht mit der glatten, immer noch jugendlich wirkenden Haut sitzen zwei leuchtend blaue Augen, die ein kraftvolles Feuer ausstrahlen. Hans ist bewegt, und glücklich.
"Hallo Paula. Da sind wir. Schön, im anderen Teil Deutschlands nach Hause kommen zu dürfen."
Hans geht mit einem Lächeln auf Paula zu und umarmt sie. In diesem Moment ist seine Sorge verflogen, es könnte ein krampfhafter Besuch werden, vor allem wegen der Vorwürfe seiner Schwester, die er sich in Gedanken ausmalte. Es war tatsächlich eine gehörige Portion schlechtes Gewissen dabei, dass Hans vor vier Jahren, als seine Mutter starb und sich dies ja sogar über ein paar Wochen abzeichnete, nicht gekommen war. Vor ihrem Tod und noch viel mehr danach befürchtete er nicht mehr, bei einer Einreise in die DDR von den Vopos als Republikflüchtling in den Knast gesteckt zu werden. Ganz im Gegenteil - Paula hatte ihm ein amtliches Schreiben der Kreisverwaltung besorgt: Wegen der familiären Notlage wurde ihm ausdrücklich die Einreise in die Deutsche Demokratische Republik gestattet. Es war tatsächlich etwas ganz anderes. Hans wollte weder seiner Mutter noch seiner Schwester in die Augen sehen und auf die Frage antworten müssen: Warum hast du uns vor einem viertel Jahrhundert, vor ewig langer Zeit, einfach so im Stich gelassen? Wie konntest du das damals tun, eine Kriegerwitwe mit kleinem Lohn und lächerlich niedriger Rente zurücklassen? Und das, obwohl du doch wissen musstest, dass hier im Dorf anders als in den großen Städten jeder Zweite mit dem Finger auf sie zeigen würde: