Guido bemühte sich um ihre Nähe, indem er ihr seine Mitschriften der Vorlesungen gab. Sie verabredeten sich zum gemeinsamen Lernen, aber das studentische Leben lockte. So legten sie die Bücher zur Seite. Die Wissenschaft konnte warten. Voller Tatendrang streiften sie durch die angesagten Lokale in Schwabing. Oft waren ihre Studien-Kollegen dabei. Insbesondere Bernd, Heinz und Günther, die nach dem Examen den Börsenzirkel: Börsengurus gegründet hatten.
Nach wenigen Wochen traf er sich mit Isabelle zu gemeinsamen Ausflügen in die Umgebung: Sie besaß einen blauen VW-Käfer, ein unerhörter Luxus. Sie besuchten die Königsschlösser des menschenscheuen, romantischen König Ludwig II., machten Wanderungen in den Bergen oder mieteten sich ein Segelboot am Starnberger See. Sie verstanden sich gut und sie kamen sich näher. So nach und nach überwand sie ihre Trauer. Guido kaufte ihr in Mittenwald einen weiten bunten Rock und eine weiße Bluse. Sie gewann ihre natürliche Fröhlichkeit und ihr bezauberndes Lächeln zurück. Sie hatte eine Eigentumswohnung in München, während er nur eine bescheidene Studentenbude bewohnte. So ergab es sich, dass er den einen oder anderen Abendbummel in ihrer Wohnung beendete.
Gemeinsam bereiteten sie sich auf das Examen vor. Da sie beide ehrgeizig waren, setzten sie alles daran, ein Prädikatsexamen zu erreichen. Sie schafften es. Beide bestanden ihr Examen mit einer Eins vor dem Komma. Damit gelang ihnen der Start ins Berufsleben ohne größere Probleme. Sie konnten sich die Firma aussuchen, für die sie arbeiten wollten. Ihre Wege trennten sich.
Er begann seine Karriere als Leiter des Finanz- und Rechnungswesens in einem chemisch-pharmazeutischen Unternehmen in Niederbayern. Ein paar Jahre verbrachte er mit der Erstellung von Bilanzen und Budgets. Er langweilte sich angesichts der ständig gleichbleibenden Aufgabenstellung, suchte eine echte Herausforderung in einem anspruchsvollen Aufgabengebiet und wollte Verantwortung übernehmen. Als er für sich in der Firma keine Aufstiegschancen sah, wechselte er zu der internationalen Beratungsgesellschaft Bosko und Partner mit Sitz in Düsseldorf.
Isabelle wurde Mitarbeiterin der Hauses Graf Ebersbach und übernahm nach kurzer Zeit die Vertriebsleitung für Weine, Champagner und Spirituosen. Sie war sehr erfolgreich. Aufgrund ihres gewinnenden Charmes bezauberte sie die Menschen, schaffte Vertrauen und nahm sie für sich ein. Sehr bald erkannte der Graf ihre Stärke in der Akquisition. Er übertrug ihr die Leitung des Champagner-Vertriebs. Die Aufgabe war ihr förmlich auf den Leib geschnitten. Die Männer suchten ihre Nähe und hofften, sie eines Tages zu besitzen. Sie aber wahrte die gebotene Distanz. Nie gestattete sie zweideutige Anzüglichkeiten in ihrer Nähe. Ihre positive Ausstrahlung hatte viel von dem elitären Produkt, das sie vertrieb. Das köstliche Prickeln des Champagners, das prickelnde Gefühl des Geldes sowie die elitäre Welt des Hochadels, der Schönen und der Reichen. Das war ihr Leben. Hier fühlte sie sich Zuhause.
Und doch fehlte ihr etwas: Man könnte es wohl am besten mit Geborgenheit beschreiben. Darin zeigte sich ein gewisser Widerspruch in ihrer Persönlichkeit: Während sie auf der einen Seite dominant – zuweilen auch herrisch – wirkte, war sie im Innersten weich, anpassungsfähig und liebebedürftig. Diese Seite blieb weitgehend im Verborgenen, als fürchtete sie, ihre harte Schutzschicht könnte zerbrechen. Wohl auch aus diesem Grunde hatte sie niemanden, der zu ihr gehörte. Das fehlte ihr, gab ihr aber auch gleichzeitig Unabhängigkeit. Sie kannte, weil sie gut aussah und sexy war, viele Männer. Es fiel ihr leicht, Kontakt zu anderen Menschen vor allem zu Männern, aufzubauen,. Mit Frauen verhielt es sich anders, denn sie betrachteten sie in gewisser Weise als Konkurrentin; in mancher Hinsicht sogar als Bedrohung.
Der Graf kannte und schätzte ihre unbestreitbaren Vorzüge. Er unterwies sie in der schwierigen Materie der Investmentfonds, der Steuersparmodelle und der Hedgefonds. Sie lernte schnell, und er betraute sie mit dem Verkauf von Aktienfonds, Schiffsfonds und Steuersparmodellen, die er finanzierte. Die Verbindung zwischen Champagnerverkauf und dem Verkauf von Investment-Zertifikaten war durchaus sinnvoll, denn sie bediente die gleichen oder wenigstens miteinander verwandten Kundenkreise.
Einige Jahre arbeitete sie für den Grafen und verkaufte Schiffsfonds und Steuersparmodelle. Das Geschäft entwickelte sich zufriedenstellend, das heißt, sie verdiente gut, kaufte sich schnelle Sportwagen und extravagante Kleidung. Aber sie fühlte sich abhängig und litt unter einem beruflichen Defizit: Sie hatte nie ein größeres Unternehmen von innen kennengelernt, sie wusste nichts über die internen Mechanismen der Macht, der Organisation und der Abläufe. Im Großen und Ganzen konnte sie Bilanzen lesen, und sie wusste, dass der Gewinn auf der Passivseite der Bilanz stand, wusste aber nicht so genau warum, und wie die Zahlen zustande gekommen waren.
Im Zuge ihrer beruflichen Tätigkeit wurde sie von ihren Kunden und Investoren immer wieder um Rat gefragt, den sie nicht wirklich fundiert geben konnte. Dieses Defizit versuchte sie auszugleichen. Daraus entstand die Gewohnheit, ihren langjährigen Freund Guido Konselmann, von dem sie wusste, dass er Unternehmensberater war, um Rat zu fragen. Daraus entwickelte sich eine Art Partnerschaft, allerdings ohne irgendwelche festen Bindungen. Dauerhafte Vereinbarungen und Bindungen wollte sie nicht eingehen, jedenfalls jetzt noch nicht. Das widersprach ihrem Wesen. Sie wollte selbständig sein und unabhängig agieren. Sie wollte niemandem Rechenschaft schuldig sein, wenn sie abends ausging oder auf Reisen ging. Und doch konnte es für sie nur von Vorteil sein, eine lose Verbindung einzugehen, in der sie in irgendeiner Form zum beiderseitigen Vorteil mit einem geeigneten Partner zusammenarbeiten würde.
Und gerade jetzt war ein Ereignis eingetreten, das sie veranlasst hatte, über ihre berufliche und private Situation noch einmal nachzudenken: Der Graf hatte ihr angeboten, sich als Finanzmaklerin selbstständig zu machen. Das schien ihr vielversprechend zu sein. So wurde sie weitgehend unabhängig und arbeitete in ihre eigene Tasche. Sie zog nach Frankfurt um und kaufte sich eine große Eigentumswohnung.
Seitdem waren sich Isabelle und Guido näher gekommen. Soweit es ihre Zeit erlaubte, trafen sie sich entweder in Frankfurt oder bei ihm in Düsseldorf. Isabelle kannte in Frankfurt und in den umliegenden Dörfern fast alle Bars und gehobenen Restaurants, in denen Champagner aus ihrem Hause getrunken wurde, und sie hatten den Konsum aktiv und nach besten Kräften und zum Nutzen des Hauses Ebersbach unterstützt.
Eines Tages hatte er eine Einladung zum Dinner ins Schloss des Grafen Ebersbach bekommen. Eine Auszeichnung, die nur wenigen Menschen zuteil wurde. Man musste schon einiges Geld für Champagner oder andere gehobene Events ausgegeben haben, um in dieses elitäre Anwesen eingeladen zu werden. Er gehörte zu dieser Gruppe der Multiplikatoren, leerte ein weiteres Glas Champagner und genoss auf dem bequemen Sessel mit wuchtigen Bronzebeschlägen den ungewohnten Augenblick der Ruhe. Was würde der Abend bringen? Neue Kontakte, um neues Geschäft zu generieren? Das war seine Hoffnung, und er würde alles tun, um dies Ziel zu erreichen. Wenn darüber hinaus noch eine schöne Frau – sozusagen als Zugabe – dabei wäre, umso besser. Er mochte schöne Frauen und schätzte die Abwechslung. Vielleicht gerade deshalb war er nicht verheiratet. Die Frauen machten es ihm leicht, suchten seine Nähe, gingen mit ihm in die Oper, ließen sich von ihm aushalten, gewährten ihm, was er sonst noch suchte, und er brauchte sich nicht zu binden. Keine langfristigen Bindungen war seine Devise. Er liebte die Herausforderung, liebte die Chancen und vielleicht sogar auch das Spiel mit dem Feuer. Eine neue Beziehung brachte neue Reize und neue Erfahrungen. Nichts verabscheute er mehr als Routine. Sowohl im beruflichen als auch im privaten Bereich. Das Neue und Unbekannte reizte ihn. Vor allem aber suchte er den Erfolg: Weiter, höher, unaufhaltsam vorwärts streben, nie anhalten und nie zurückschauen. Macht, Einfluss, Anerkennung, sicher auch Geld, das zum gehobenen Lebensgefühl dazugehörte. Geld war für ihn nicht Selbstzweck, sondern es war Mittel zum Zweck. Er suchte Vollkommenheit, Perfektion und die Herausforderung, an der er seine Kräfte erproben konnte. Um diese Ziele zu erreichen, wurde er von beständiger Arbeitswut getrieben. Das spielerische Genießen und fröhliche Feiern lag ihm fern. So würde es auch an diesem Abend sein, an dem das Feiern als Mittel zum Zweck angesehen werden konnte.
Es wurde Zeit, sich für den Abend zurechtzumachen: Duschen, frische Wäsche, Smoking, weißes Hemd, schwarze Fliege, weißes Tuch in der Brusttasche, etwas locker, wie zufällig gesteckt, schwarze Lacklederschuhe. Ein kurzer Blick in den Spiegel, der seitlich in der