Der Patriarch nickte seinen Kindern anerkennend zu und hob seinen Daumen zum Zeichen des zu erwartenden Erfolgs. Isabelle hatte ihren Kopf an seine Schulter gelehnt. Ihr schwarzes Haar war mit einem perlenbestickten Band, das eher einem Diadem glich, zur Seite gerafft. Sie war schon eine eindrucksvolle Frau, die sich ihrer anziehenden Wirkung durchaus bewusst war. Sie genoss ihre herausgehobene Rolle als Frau an der Seite des Hausherren. In der kurzen Pause begannen die Gäste untereinander mit versteckten Andeutungen über die künftige Rolle dieser ungewöhnlichen Frau an der Seite des Patriarchen zu raunen. Würde sie die künftige Hausherrin sein? Man könnte es sich durchaus vorstellen. Eine Frau an seiner Seite wäre ihm wirklich zu wünschen, aber war sie nicht zu jung? War er nicht zu alt für sie? Die beiden trennten etwas mehr als dreißig Jahre. Und er hatte seine besten Jahre hinter sich gelassen, wie jedermann leicht erkennen konnte. Sie aber hatte ihr Leben noch vor sich.
Die Solisten nahmen erneut ihre Plätze ein. Julia, rückte ihren Stuhl hinter dem Cello zurecht. Hinrich zupfte zart ein paar Saiten, indem er mit dem einen Ohr in das Instrument zu kriechen schien. Damit war allen Beteiligten klar, dass sich hier ein besonders feinsinniger und außerordentlicher Künstler auf den nächsten Einsatz vorbereitete, den er nun vor einem erlesenen Publikum zelebrieren würde. Zu diesem Zeitpunkt wusste allerdings noch niemand, dass er sehr nervös war. Er versteckte seine Unsicherheit hinter ein paar großen Gesten, die er bei anderen Virtuosen abgesehen hatte und die er für besonders wirkungsvoll hielt.
Der zweite Satz begann mit kraftvollen Oktaven der Solisten. Das einfache Kopfthema wurde vom Orchester (hier vom Flügel) farbig begleitet. Ein inniges Seitenthema, das im terzverwandten F-Dur steht, erfährt bald eine stärkere klanglich-harmonische Differenzierung.
Cello und Geige wechselten sich harmonisch ab und warfen sich spielerisch die Bälle zu. Julia beherrschte souverän die Szene und zog das Publikum magisch in ihren Bann. Das anmutige, makellose Gesicht, die entblößten Schultern, die fast andächtige Versenkung in die wechselnden Stimmungen der Musik ließen sie wie von allem Irdischen abgehoben erscheinen.
Der erste Teil erklang mit aufgelockerter Begleitung; der zweite Teil folgte mit einer reizvollen Coda. Der Satz strömte Kraft und Zuversicht aus. Sie übertrug sich aber nicht auf den Interpreten. Im Gegenteil: Hinrich war total verunsichert. Er spürte die unerklärlichen, geheimnisvollen, negativen Schwingungen, die von der Dame in dem roten Kleid ausgingen. Sie schienen ihn zu umgarnen, legten sich wie ein Kokon um seinen Leib. Raubten ihm die Sinne.
In diesem Augenblick geschah das Unfassbare: Julia eilte dem Tempo voraus und fiel dann unerwartet zurück. Die Solisten drohten als musikalische Einheit auseinanderzufallen. Die Spannung ließ nach. Hinrich bemerkte es und wusste, dass auch seine Schwester den negativen Schwingungen nicht entkommen konnte. Er wurde nervös und hoffte, dass sie sich bald wieder in den Griff bekommen würde. Sie blickte hilfesuchend auf den Pianisten am Flügel. Hinrich spürte die Not seiner Schwester und konnte sich kaum auf sein Spiel konzentrieren. Er kannte die Ursache des Übels: Es war die Frau in Rot mit dem schwarzen Haar. Sie war die Judith aus dem Alten Testament, die seinen Kopf forderte und ihn schließlich bekam. Hinrich ließ den Bogen sinken und sah keine andere Möglichkeit, außer von Neuem zu beginnen.
Entsetzen und Fassungslosigkeit erfüllten den Raum. Der junge Mann stand wie ein begossener Pudel vor dem Publikum und blickte verzweifelt auf seinen Vater, wie er es in ähnlich kritischen Situationen bei öffentlichen Auftritten oft getan hatte. Aber der sonst so dominante Vater konnte in dieser Situation nicht eingreifen und wandte sich verärgert ab.
In diesem Augenblick begann die Katastrophe. Die linke Hand des Vaters begann unkontrolliert zu zittern. Auch Isabelle bemerkte es und griff nach seiner Hand. Sie streichelte sie beruhigend, aber das Zittern ließ nicht nach. Sie beugte sich zu ihm hinüber und gab ihm zu Beruhigung einen Kuss auf seine Wange. Ingrid blickte starr und teilnahmslos aus dem Fenster, wo sich ein gewaltiges Gewitter mit ungeheurer Kraft zu entladen begann. Sie schien von dem Vorfall auf der Bühne nicht betroffen zu sein. Jedenfalls zeigte sie keine Regung. Sie wirkte irgendwie erstarrt.
Hinrich bemerkte die fürsorgliche Reaktion von Isabelle und versuchte erneut sich zu konzentrieren. Es gelang ihm nicht. Er fand nicht wieder in sein Spiel zurück, wusste kaum noch wo er war. Sein Vater runzelte verärgert die Stirn und schaute seinen Sohn missbilligend an, als wenn er sagen wollte: Nun vermassele mir nicht wieder die Schau. Junge, du bist ein Versager, du taugst zu nichts. In der Firma taugst du nicht, und in der Musik, die doch deine eigentliche Domäne ist, auch nicht. Wozu kann ich dich gebrauchen? Was soll ich mit dir machen? Am besten, du gehst deiner Wege. Mein Sohn bist du nicht, mein Nachfolger in der Firmenleitung kannst du nicht werden. Ich habe dir alles ermöglicht. Du konntest die besten Internate und Universitäten besuchen, du konntest mit den besten Lehrern musizieren. Und das ist nun der Dank für mein Bemühen. Du solltest dich schämen.
Wie ein begossener Pudel stand Hinrich ratlos auf dem Podium und hielt sich an dem kleinen Geländer fest. Ihm war schwindelig, es drehte sich um ihn. Der Boden schwankte, schien sich unter ihm zu öffnen, als wolle die Erde ihn verschlingen. Er wusste nicht, was er machen sollte. Der alte Herr wurde bleich, rutschte seitlich von seinem Sessel und fiel auf den Boden. Sofort bemühte sich Isabelle um ihn.
Ingrid löste sich aus ihrer Erstarrung, erhob sich und wandte sich den Gästen zu. Sie rief mit lauter Stimme:
- Wir brauchen einen Arzt. Befindet sich ein Arzt hier unter uns?
Lähmende Stille herrschte im Saal. Niemand antwortete. Einige Gäste hatten sich von ihren Sitzen erhoben und versuchten zu erkennen, was geschehen war. Konselmann beugte sich vor und erkannte, dass er nichts tun konnte. Hier konnte nur ein Arzt helfen.
- Rufen Sie den Notarzt, rief Ingrid. Sie sollen sofort einen Rettungswagen schicken. Sie sollen sich beeilen, es geht um Leben und Tod.
Hinrich war zitternd vor Aufregung und Entsetzen vom Podium gestiegen und hatte sich verschämt hinter den Vorhang zurückgezogen. Er hätte sich am liebsten wie eine Maus in ein Loch verkrochen. Bloß mit niemandem sprechen, ich will jetzt nur noch allein sein, dachte er. Julia war zu ihrem Vater geeilt, wurde jedoch von Ingrid energisch zurückgewiesen: Du kannst hier jetzt nicht helfen, ich kümmere mich um meinen Bruder. Enttäuscht zog sich Julia zurück.
Hinter der Bühne trafen sich die Geschwister im kleinen Nebenraum, der für die Breitstellung der Getränke reserviert war.
- Vorwurfsvoll sprach Hinrich seine Schwester an: Julia, was war los mit dir? Warum hast du plötzlich das Tempo verzögert? Wir hatten uns doch darauf verständigt, dass Paulsen die Tempi bestimmen soll. Dann hast du plötzlich das Tempo angezogen, ich aber durfte dir nicht folgen, weil wir es doch anders beschlossen hatten.
- Ich weiß, es war meine Schuld, sagte sie. Die Tempi entsprachen nicht meinem Gefühl. Wir hätten damit die Seele des Werkes zerstört.
- Mag sein, aber hier befinden wir uns auf der Erde, in unserem Elternhaus. Jetzt haben wir viel zerstört. Vielleicht sogar Vaters Leben. Das ist viel schlimmer als die richtige Interpretation der Musik.
- Wir hätten es in jedem Fall zu Ende spielen sollen, sagte sie vorwurfsvoll. Ich habe dir deutliche Zeichen gemacht und das nächste Thema angespielt. Du hättest es nur aufgreifen müssen. Ein paar fehlende Noten, ein Wechsel im Rhythmus: Niemand hätte es gemerkt.
- Es war mir nicht möglich. Und jetzt ist alles aus. Vater wird mir allein die Schuld geben, sagte er kläglich.
- Julia blickte ihn schuldbewusst an: Hinrich, verzeih, ich weiß auch nicht, was mit mir passiert ist. Ich dachte an unser Spiel unter freiem Himmel. Es war damals mit Michel so wunderschön, so überirdisch gewesen. Wir befanden und in vollkommener Harmonie. Jetzt aber fehlte die Seele. Wir spielten wie herzlose, unbeteiligte Automaten. Du wirktest plötzlich so abweisend und so fremd. Was war geschehen?
- Ich kann es dir nicht erklären, denn ich weiß es selber nicht. Meine Nerven versagten, ich merkte, wie mich dieses Teufelsweib mit ihren dunklen Augen fixierte. Als ich sah, wie sich dieses unselige Weib in dem roten Kleid unserem Vater zuwendete und ihm die zitternde Hand hielt. Ich sah unsere Mutter vor mir. Wie sie blutüberströmt im Bett lag. Er brach in Tränen aus.
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