Der Tote im Reichstag und die verträumte Putzfrau. Nadja Dietrich. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nadja Dietrich
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748504573
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Der Kopf, der aus dem Hemd mit der gelockerten Krawatte herausschaute, war zur Seite geneigt und stützte sich an der Kloschüssel ab, als wollte er dieser etwas anvertrauen. Dem entsprach auch der geöffnete Mund, auch wenn das, was darin zu erahnen war, auf Lidia Afanasjewna seltsam starr und eingetrocknet wirkte. Allerdings visierten die Pupillen nicht das Ziel an, auf das die Haltung des Kopfes hindeutete, sondern waren auf die Decke gerichtet und schienen sich zudem, in einer angestrengt wirkenden Verrenkung, gegenseitig zu suchen, als wollte eine in der anderen Halt finden.

      Lidia Afanasjewna hielt sich reflexartig die Hand vor den Mund. Ihre Augen waren, in einer Geste instinktiven Mitgefühls, weit aufgerissen. Vorsichtig, als könnte das, was da auf dem Boden lag, sie unvermutet anspringen, trat sie einen Schritt zurück, dann noch einen, bis die unsichtbare Brücke zwischen ihrem Blick und diesen die Leere trinkenden Augen sich verflüchtigt hatte. Sie schloss die Augen und dachte an Aljoscha – oder vielmehr: Sie beschwor ihn, zu erscheinen und sie in die Arme zu nehmen. Doch so sehr sie sich auch bemühte, ihn herbeizuphantasieren, er kam einfach nicht. Typisch Mann, dachte Lidia Afanasjewna. Immer wenn man sie braucht, sind sie nicht da.

      Zitternd tastete sie nach ihrem Handy und wählte die 1-1-0. "Hallo? Ist dort die Polizei? Ich habe hier einen Toten gefunden …"

      Ein Sturm von Fragen prasselte auf sie ein: Wo genau sie sich befinde, ob sie sich sicher sei, dass die Person tot sei, ob sie den Leichnam berührt habe, wie sie heiße und wer ihr Arbeitgeber sei. Es folgte die Anweisung: "Fassen Sie nichts an und bleiben Sie, wo Sie sind! Wir sind gleich bei Ihnen."

      Lidia Afanasjewna hörte sich die Fragen geduldig beantworten und sah sich noch gehorsam nicken, als die körperlose Stimme an ihrem Ohr das Gespräch längst beendet hatte. Mechanisch schritt sie auf den Flur hinaus, wo sie mit der unbewussten Zielstrebigkeit einer Schlafwandlerin dem Fenster am Ende des Korridors entgegenstrebte. Sie öffnete die Scheiben und sog tief die frische Morgenluft ein. Und hier, wo der Wind den von anderen Welten getränkten Atem des nahen Flusses heranwehte, fand sie endlich Aljoscha wieder. Sie warf sich ihm in die Arme, sie hüllte sich in seine männliche Dunkelheit wie in einen langen, wärmenden Mantel, der sie die winterliche Welt vergessen ließ.

      Kurze Zeit darauf zuckte sie heftig zusammen. Jemand hatte sie von hinten an der Schulter berührt. Sie drehte sich um und blickte in das eigenschaftslose Gesicht eines Mannes in mittleren Jahren. "Entschuldigung", sprach er sie mit gedämpfter Stimme an, "haben Sie uns angerufen?"

      "Ob ich Sie angerufen habe … Ja, ich … ich glaube schon …" Sie war noch ganz benommen von Aljoschas Umarmung, ihre Augenlider zuckten unter dem plötzlich anbrandenden Licht. Als sie wieder zu sich kam, stellte sie erstaunt fest, dass der Mann, der sie angesprochen hatte, mit nur einem weiteren Kollegen angerückt war. Beide trugen überdies keine Uniformen, sondern waren in Zivil gekleidet. Wahrscheinlich der Sicherheitsdienst, die Vorhut der eigentlichen Polizei, dachte sie, und trottete hinter dem Mann her, der sie in einen Nebenraum geleitete. Dort sah sie sich einem weiteren Fragegewitter ausgesetzt, dessen Resultate ihr Gegenüber parallel zu ihren Antworten in einem Notebook festhielt: Wie sie den Toten gefunden habe, ob sie sofort die Polizei angerufen habe, ob sie noch jemand anderen benachrichtigt habe, ob sie auch wirklich nichts angefasst habe …

      "Sie werden verstehen, dass es sich bei einem Toten im Bundestag um eine sehr heikle Angelegenheit handelt", redete der Mann ihr schließlich noch ins Gewissen. "Ich muss Sie daher bitten, vorerst mit niemandem darüber zu sprechen." Dabei sah er ihr fest in die Augen.

      Lidia Afanasjewna nickte geistesabwesend.

      Der Mann klappte sein Notebook zu. "Von unserer Seite war's das dann erst mal. Sie können jetzt nach Hause gehen. Halten Sie sich aber bitte zu unserer Verfügung."

      "Aber … Ich bin doch noch nicht fertig mit der Arbeit", wandte Lidia Afanasjewna schüchtern ein.

      Der Mann verzog die Mundwinkel, vielleicht wollte er lächeln. "Doch – für heute sind Sie fertig. Keine Angst: Wir regeln das mit Ihrem Chef!"

      Das Verhalten der Männer kam Lidia Afanasjewna irgendwie merkwürdig vor. In den Fernseh-Krimis wirkten die Tatorterkundungen immer viel aufwändiger, viel akribischer … Aber vielleicht war es ja auch ein Fehler, von der Fernsehrealität auf die echte Realität zu schließen. Oder handelte es sich bei den Männern am Ende doch um Außerirdische, die den Toten zu Forschungszwecken in ihr Raumschiff entführen wollten? Doch als sie sich auf dem Weg zum Ausgang zu Aljoscha umdrehte und sah, wie dieser halb belustigt, halb missbilligend den Kopf schüttelte, beschloss sie, diesen Gedanken nicht weiterzuverfolgen.

      III. Dunkle Mächte

      Grelles Licht kitzelte Lidia Afanasjewna an ihren Lidern. Sie befand sich in einem Fernsehstudio, als Teilnehmerin an einer Reality-Show, in der Deutschlands Top-Reinigungskraft gesucht wurde. Alle Kandidatinnen mussten einen Gang putzen, der nach oben hin offen war. So konnten die Zuschauer per Televoting bestimmen, welche Bewerberin ihre Arbeit am besten ausführte.

      Gerade saß sie für das übliche Vorgeplänkel dem Moderator der Sendung gegenüber. "Und Sie kommen also aus Russland?" wollte der smarte Fernsehmann wissen.

      Lidia Afanasjewna hasste derartige Fragen. Als könnte sie in zwei Sätzen ihr Verhältnis zu ihrer alten Heimat umreißen – noch dazu vor Publikum! So beschloss sie, den Traum – denn um einen solchen musste es sich ja wohl handeln – an diesem Punkt zu verlassen. Angestrengt besann sie sich auf das, was dem Traum ins Leben geholfen haben könnte. Was war ihr noch gleich widerfahren, bevor sie sich schlafen gelegt hatte? Richtig, sie war früher als sonst nach Hause gekommen, Igor hatte noch – oder schon? – am Frühstückstisch gesessen.

      "Schon Feierabend?" hatte er sie gefragt, als sie die unterwegs besorgten Brötchen auf den Küchentisch legte. "Iss was passiert?"

      "Ja, stell dir vor, es hat einen Toten gegeben!" Sie war zu erschöpft gewesen, um ihm die ganze Geschichte zu erzählen.

      Igor hatte sie ungläubig angesehen: "Einen Toten? Und was hast du damit zu tun?"

      "Na, ich habe ihn gefunden."

      "Du hast ihn gefunden? Und wo soll das gewesen sein?"

      "Auf dem Klo, wenn du's genau wissen willst."

      Daraufhin war ein kurzes Schweigen eingetreten. Igor hatte ihr zugesehen, wie sie ein Brotmesser aus dem Küchenschrank nahm, um die Brötchen durchzuschneiden. Dann hatte er kurz aufgelacht und trocken angemerkt: "Also weißt du, manchmal frage ich mich, wer von uns beiden jeden Abend sein Wodkachen trinkt …"

      Dunkel erinnerte sich Lidia Afanasjewna noch daran, dass sie zwei Brötchen durchgeschnitten und sich anschließend auf die Eckbank hatte fallen lassen. Erst dort hatte sie bemerkt, wie müde sie war. Eigentlich hatte sie vorgehabt, sich mit einem ausgiebigen Frühstück für das ihr widerfahrene Ungemach zu entschädigen. Aber jetzt war es ihr doch verlockender erschienen, sich noch einmal hinzulegen.

      Beruhigt drehte Lidia Afanasjewna sich auf die andere Seite: So war das also gewesen. Sie hatte sich ein Vormittagsnickerchen genehmigt, inzwischen war es Mittag, die Wolkendecke war aufgerissen, und nun schien die Sonne ins Zimmer herein. Sie stutzte. Die Sonne? Aber das war doch gar nicht möglich! Das Schlafzimmerfenster war nach Westen ausgerichtet, im Winter bekam man sie hier doch gar nicht zu sehen …

      Lidia Afanasjewna warf sich wieder auf den Rücken. Als sie blinzelnd die Augen öffnete, hatte sie eher den Eindruck, in eine sehr helle Lampe zu blicken, fast wie auf einem Operationstisch … War sie etwa nach ihrem grausigen Fund im Reichstag zusammengebrochen? Hatte man sie in ein Krankenhaus gebracht? Aber dann hätte sie doch nicht gleich operiert werden müssen! Befand sie sich vielleicht eher in einer Zahnklinik? Sollte ihr der Zahn gezogen werden, der ihr schon so lange Probleme bereitete? Und erinnerte sie sich unter dem Einfluss der Narkose womöglich an Dinge, die in Wahrheit schon viel länger zurücklagen?

      Lidia Afanasjewna nahm alle Kraft zusammen und bemühte sich – dem Betäubungsmittel zum Trotz, das man ihr offensichtlich gespritzt hatte – an der Lampe vorbei in das Gesicht des Operateurs zu blicken. Dort, wo dessen Kopf hätte sein sollen, sah sie jedoch nur ein schwarzes