ICH: „Seit vier Monaten. Aber das allein ist nicht der einzige Grund, wieso ich herkommen soll.“
Nun hatte ich wohl irgendwie sein Interesse geweckt. Sein Blick fixierte mich. Liebeskummer allein bringt einem Psychologen womöglich schon gut Geld ein, aber wenn dort noch mehr in einem Patienten ist, bedeutet das mehr Sitzungen und dies bedeutet wiederum mehr Geld für den Seelenheiler. Man kann es denen ja auch nicht verübeln. Wer hört sich schon freiwillig die Sorgen anderer an und studiert dafür noch?
DOC: „Okay. Ich würde dieses Erstgespräch gern dafür nutzen mehr über Sie zu erfahren, damit ich mir ein explizites Bild von Ihnen machen kann.“
ICH: „Ja, okay – von mir aus.“
DOC: „Gut, dann erzählen Sie doch mal von sich. Wer Sie sind, was Sie machen, was Ihnen im Leben so alles widerfahren ist und so weiter. Jedes Detail ist wichtig. Seien Sie einfach ehrlich, desto besser kann ich Ihnen letztendlich helfen“, sprach er mich auffordernd an und nahm dabei einen Block sowie einen Kugelschreiber zur Hand.
Ich stockte kurz. „Ich sollte mich also einfach entblößen? Einfach vor jemand völlig Fremden meine Hose runterlassen? Das widersprach eigentlich völlig meiner Art, doch mit dem Übertreten der Türschwelle der Praxis hatte ich meine Art schon über den Haufen geworfen. Niemals wollte ich fremde Hilfe annehmen, doch nun saß ich dort und hatte ohnehin nichts zu verlieren. Er machte jeden Tag doch nichts anderes als sich Sorgen anderer Wesen anzuhören, diese zu katalogisieren, ein Fazit zu ziehen und dann entsprechende Methoden anwenden, um diese Sorgen letztendlich zu reduzieren bzw. diese gar aufzulösen. Was gab es also schon zu verlieren? Er hört es sich an und geht dann nachher nach Hause zu seinen Kindern und seiner Frau, welche er als Bild auf seinem perfekt arrangierten Schreibtisch hat“, dachte ich.
Meine Gedanken waren nun bereit aus meinem Mund zu strömen. Ich fing zunächst an die Basics auszuplaudern, die man jedem noch so unvertrauten Menschen anvertrauen konnte.
ICH: „Ja also, ich bin Brian Herkstein. Ich bin 28 Jahre alt, hier in Cuxhaven geboren und aufgewachsen und machte 2006 mein Abitur. Anschließend musste ich dann zum Bund und habe danach meine Ausbildung als Bestattungsfachkraft begonnen. Ja, und in dem Beruf arbeite ich heute noch.“
Sein Blick änderte sich leicht. Zumindest kam es mir so vor. Es war dieser Blick, den jeder in meinem Beruf zu sehen bekommt, wenn man verrät, womit man sein Geld verdient. Dieser Blick voller Neugier, Abscheu und Ekel. Ich hatte mich schnell daran gewöhnt und es machte mir auch nie groß etwas aus. Ganz im Gegenteil, ich genoss schon immer gern die Aufmerksamkeit der anderen.
DOC: „Wie kamen Sie dazu?“
ICH: „Ich weiß nicht, ob es am frühen Kontakt mit dem Tod lag, aber es reizte mich halt immer schon die Vergänglichkeit. Als kleines Kind nahm mich mein Opa immer mit auf den Friedhof zu Omas Grab. Ich realisierte da, dass von Friedhöfen eine unglaublich tiefe Ruhe ausgeht. Ein Ort, an dem man bedacht denkt, bedacht redet und besonnen handelt. Ich mag solche Orte. Auf Opas Bauernhof, auf dem ich unzählige Ferientage verbrachte, war es auch normal, dass dort Tiere geboren wurden oder halt auch starben. Ich bin mit dem Tod groß geworden. Er war immer irgendwie präsent. Und was auch gut ist, ist die Abwechslung und Vielseitigkeit. Man macht Verwaltungsarbeit im Büro, organisiert, plant, berät Kunden und man hat aber gleichzeitig handwerkliche Tätigkeiten zu erledigen. Tja, und es wird nie langweilig, weil man nie weiß, was auf einen am nächsten Tag zukommt. Ruft da die Kripo wegen eines Mordfalls an oder muss man noch die ein oder andere neue Beerdigung planen? Das hat mich so gereizt in diesen Beruf zu gehen.“
DOC: „Oh, okay. Für mich persönlich wäre das nichts. Ich bevorzuge dann doch die Lebenden. Was sagen Ihre Eltern zur Ausübung dieses Berufes?“, fragte er seriös lächelnd und nicht ahnend, dass er meinen wunden Punkt schon nach nicht mal fünf Minuten getroffen hatte.
ICH: „Meine Mutter kam damit klar.“
DOC: „Kam? Jetzt etwa nicht mehr?“
ICH: „Sie starb letztes Jahr.“
DOC: „Oh! Mein Beileid dann nochmal an dieser Stelle. Möchten Sie vielleicht darüber reden?“
ICH: „Ganz so viel gibt es da eigentlich nicht zu erzählen“, spielte ich es lapidar runter.
DOC: „Erzählen Sie ruhig so viel Sie mögen, wir haben genug Zeit.“
ICH: „Sie starb letztes Jahr im Januar, weil irgendein scheiß Penner einen Ziegelstein von einer Brücke auf die Autobahn warf, als sie auf dem Weg zu einer Freundin war. Das Ding krachte durchs Fenster und hat ihren Schädel regelrecht zertrümmert. Wie kann man sowas tun? Das kam alles so krass. Einfach so. Zwei Tage vorher war ich noch mit ihr beim Griechen zum Essen und dann erfährst du, dass deine Mutter tot ist. Was für ein sinnloser Tod. Kotzt mich so an, dass die scheiß Bullen nicht mal einen Verdächtigen vorweisen konnten. Lieber kontrollieren sie einen, wenn man kein Licht am Fahrrad an hat. Haben ja nichts Besseres zu tun. Scheiß Bullen!“
DOC: „Sie hatten also engen Kontakt zu Ihrer Mutter?“
ICH: „Ja, das war absolut so. Sie war immer für mich da und stand auch immer 100 Prozent hinter mir. Hatte ich Geldnöte – sie war da. Hatte ich Tränen im Gesicht – sie war da. Hatte ich mal nichts zu Essen im Kühlschrank – sie war da. Sie hat sich immer rührend um mich gekümmert. Meine Mutter war eine pragmatische Frau voller Herz. Jedes Gramm ihres Herzens war voller Leidenschaft für mich. Das werde ich ihr nie vergessen. Ihr Verlust ist mit keinem Gold der Welt aufzuwiegen. Würde ich diesen Hurensohn, der meiner Mutter das antat…“
Ich schwieg kurz und ging in mich, um nicht zu krass in meiner Äußerung zu werden. Ich ordnete kurz meine Gedanken und beruhigte mich.
ICH: „Na, Sie wissen schon. Oft hat man ohnehin schon einen anderen Blick auf die Welt und würde sie am liebsten in Flammen sehen, aber diese eine spezielle Person, die würde ich so gerne… – na, Sie wissen schon, aber ich denke das ist normal.“
Er nickte kurz.
DOC: „Und Ihr Vater? Was ist mit dem?“
ICH: „Er ist auch tot. Habe ihn aber nie richtig kennenlernen können, weil ich fünf war, als er starb. Er war damals als Pilot bei der Bundeswehr und starb noch während seiner Ausbildung in Arizona. Was meine Mutter so sehr liebte, starb in dem Land, in dem sie geboren wurde. Komische Ironie des Schicksals. Na ja, und woran ich mich halt erinnern kann, ist, dass meine Mutter mir damals sagte, dass wir alle sterben müssen. Ich habe als kleiner Junge den ganzen Tag unter dem Stubentisch verbracht und geheult. Sie konnte wohl selbst nicht richtig mit der Situation umgehen, da kamen solche Sprüche nun mal manchmal von ihr. Kann man ihr aber nicht verübeln. Wer kommt mit sowas schon einfach so klar? Aber an ihn selbst erinnere ich mich leider nicht. Nicht ein Stück. Das war halt nur der Moment, an dem ich merkte, dass bei uns irgendwas anders ist. Der erste Moment, in dem mir wohl indirekt klar wurde, dass ich keinen Vater hatte.“
DOC: „Wie steht es um den Rest Ihrer Familie. Irgendwelche Geschwister vielleicht?“
ICH: „Ne, ich bin ein Einzelkind. Wirklich Kontakt habe ich zu keinem, außer zu Tante Erna, weil sie auf mich aufpassen musste, während meine Mama damals arbeiten war. Haben jetzt immer mal gelegentlich Kontakt. Aber sonst sind alle Großeltern mittlerweile tot. Zu meinen Cousinen habe ich gar keinen Kontakt und auch zu meinem Onkel nicht. Die leben ihr Leben, ich lebe meins.“
DOC: „Fühlen Sie sich oft einsam?“
ICH: „Irgendwie ja, irgendwie nein. In meinem Kopf ist oft Achterbahn. Manchmal könnte ich vor Einsamkeit heulen, wie in dieser Phase meines Lebens, manchmal bin ich aber auch froh, wenn ich niemanden um mich herum habe. Ich denke jedoch, dass die Traurigkeit in mir überwiegt - verstehen Sie, was ich meine?“
DOC: „Ja sicher, ich verstehe Ihren Gemütszustand.“
Ich bemerkte, wie er immer mehr Notizen auf seinem Block notierte. Lief seine Analyse womöglich schon auf Hochtouren?
DOC: „Ich würde gern auf Ihre Ex-Freundin zurückkommen.