Aus Manuels Ohnmacht wurde erst Verzweiflung und dann Aggression. Er kochte innerlich, dachte an seine Kreditkarte und den Sportwagen. Das Feuer in ihm wurde größer, und es brodelte in ihm wie in einem Vulkan, dessen größtes Verlangen es war, dieses Büro mit geschmolzenem Gestein durchzuspülen... Manuel nahm die Zettel, auf denen die Zahlungseingänge aufgelistet waren, und zerriss sie.
„Na bitte. Wir haben uns also verstanden?“, fragte Peter und sah sich die beiden vergewissernd an. Auch er nahm seine Zettel und zerriss sie. Claudia fiel nichts besseres ein, als den neiden ihre zerrissenen Papierreste abzunehmen und sie in den Papierkorb zu werfen.
„Sein oder nicht sein. Nie wieder verlieren!“, kommentierte Claudia das.
Manuel sah sie kurz an, er meinte verstanden zu haben, dass sie schon einmal verloren hatte. Ihm war der Gedanke des Verlierens fremd. Er hatte ja noch nie gekämpft, nicht mit dem Abitur und auch nicht während des Studiums. Er hatte immer alles, was er brauchte, gutes Essen, viel Bewegung auf dem Tennisplatz, allem voran, und so konnte er auch sorglos die besten Noten liefern. Nur das mit dem Studienabschluss fehlte noch. Mit dem „Master of Business Administration“ in der Tasche, besser bekannt als „MBA“, wären die lustigen Zeiten vorbei. Sein Vater hingegen hatte schon so manchen Gegner aus dem Feld geschlagen. Der fing nach dem Krieg als Aktenbote in einer Bank an. Dann ließ er sich eine Lehre anerkennen und machte sein erstes Geschäft als Geldverleiher. Mit eben diesem Horst Wohlert, der nun nicht mehr zahlte. Manuels Wut auf seinen Vater war verflogen. Jetzt aber war es Peter, der wütend wurde - auf Horst.
„Die Zahlen sprechen Bände“, sagte Peter. „Kleine Planänderung, ihr müsst die Landmaschinenfirma wohl leider abwickeln, beziehungsweise, seht mal, was ihr da noch rausholen könnt.“
Jetzt ging Claudias Puls hoch. „Was?“, rief sie.
Sie war angetreten, das Lebenswerk ihres Vater zu retten, und nun sollte sie vom Gärtner zum Bock gemacht werden?
„Das geht doch gar nicht“, sagte sie und meinte, dass diese wenigen Worte einen Peter Schlüter hätten umstimmen können. „Das Insolvenzrecht sieht eine Sanierung vor.“
„Das weiß ich auch. Aber erstens ist die Eröffnung der Insolvenz noch in relativ weiter Ferne, und zweitens“, fuhr er fort, „Sie, Frau Petersen, Sie haben da sicherlich gewisse Möglichkeiten, die die anderen Gläubiger nicht haben.“
Manuel hatte zwar immer gute Noten, aber Praxis fehlte ihm gänzlich. Er konnte nur zuhören. Aber viel hörte er nicht mehr, denn Claudia Petersen ging zur Tür.
„Ich kündige!“, sagte sie nur noch, verließ das Büro und schloss die Tür hinter sich.
„Ich kann da wenig mitreden, aber eins weiß ich: Wenn ich einmal so werden sollte wie du, dann erschieß mich!“ Manuel hatte einen bestimmenden Ton. Noch nie hatte er so entschlossen zu seinem Vater geredet. Er kannte das nicht von sich. Peter hatte Manuel auch noch nie so erlebt. Hatte er hier wirklich etwas falsch gemacht? Als Privatbankier taten ihm die Verluste der Wohlert Landmaschinenfirma persönlich weh, und das über eine längere Zeit. Er meinte richtig gehandelt zu haben. Er gab Claudia eine berufliche Chance und fühlte sich sogar noch als Samariter, aber er zweifelte tatsächlich, und er äußerte seine Bedenken.
„Manuel, es tut mir leid! O.k.! Es war Quatsch von mir. Da sind zwei Menschen, die etwas anderes von mir erwartet haben. Aber warum ist sie einfach abgehauen?“
„Vielleicht glaubt sie, dass es keinen Sinn hat, mit so einem harten Kerl wie dir zu reden. Ich bin dann auch weg. Ich geh jetzt endgültig, um die Welt zu umsegeln. Mach's gut Papa“, sagte Manuel und sah Peter in der Hoffnung an, er möge klein beigeben. Er tat es.
„O.k.! Du bist der Dritte, der von mir etwas anderes erwartet hat. Manuel, sag mir, was soll ich tun?“
„Wenn du das nicht weißt, Papa, dann bestätigt das meine Entscheidung.“
Manuel wollte nun wirklich gehen, aber Peter wusste genau, was man von ihm verlangte. Er realisierte es nur zaudernd.
„Manuel! Herrgott noch mal! Bleib hier, du störrischer Bengel.“
Manuel blieb stehen. Er stand da wie Lots Frau, die sich umgedreht hatte und zur Salzsäule erstarrte. Manuel hatte sich aber noch nicht umgedreht. Er hielt die Türklinke in der Hand und lauschte. Peter suchte nach Worten, und es dauerte recht lange, bis er von seinem Ross herunter war.
„Ihr könnt die Landmaschinenfirma sanieren. Meinetwegen beisst euch die Zähne daran aus. Das könnte ich verkraften, aber ich will dich nicht verlieren.“
Manuel drehte sich um. Die Hand behielt er aber an der Türklinke. Peter sah das. Manuels Blicke deuteten in die Richtung der eben verschwundenen Claudia Petersen.
„Moment!“ Peter wandte sich ab, er schloss die Augen, atmete tief in den Bauch und zählte bis vier. Beim Ausatmen zählte er bis sechs. Manuel wusste, es handelte sich um eine neue Atemtechnik für Choleriker. Wobei dieser Begriff auf alle Menschen angewendet werden konnte, die nicht zu den Lethargikern gehörten. Gleich würde er seine Augen als anderer Mensch wieder öffnen. Melancholiker oder Phlegmatiker konnten in Konfliktsituationen, also wenn sie herausgefordert wurden aus ihrem Schneckenhaus, schnell überfordert reagieren. Bei Peter war es jedenfalls ganz genau so. Wenn nicht alles wie gewohnt am Schnürchen lief, dann ging nichts mehr. Manuel fragte sich, warum sein Vater so überreagierte. Stimmte etwas mit Claudia nicht? Hatte er da jemanden eingestellt, der etwas zu verbergen hatte?
„Jetzt geht es wieder“, sagte Peter. „Moment, ich bring das wieder in Ordnung!“
Peter ging zum Fenster. Manuel folgte ihm.
„Frau Petersen!“, rief Peter auf den Parkplatz.
Claudia stand an der Schranke. Sie konnte nicht vom Parkplatz fahren, sie hatte ja keine Fernbedienung für die Schranke. Claudia drehte sich in Richtung des offenen Fensters. Manuel stupste Peter an.
„Es tut mir leid, Frau Petersen“, rief Peter. Manuel stupste ihn erneut. Peter sah ihn streng an und wandte sich wieder Claudia zu. „Ich habe einen Fehler gemacht. Kommen Sie bitte noch mal hoch?“
Claudia kam nachdenklich die Treppen hinauf. Den Aufzug hatte sie gemieden, weil er unterwegs war und sie nicht warten wollte. Sie dachte an Adrenalinabbau und Cortisolkompensation. Stufe um Stufe kam sie empor und überlegte sich, warum sie auf diese Entschuldigung eingegangen war. Ihr neuer Chef hatte unüberlegt geantwortet. Unüberlegt! Was hieß das eigentlich? Sollte man jedes Wort auf die Goldwaage legen, bevor man es aussprach?
Das Treppenhaus war nüchtern und zweckmäßig. Weiße Farbe an den Wänden, hier und da ein Hinweisschild auf Notausgänge und Etagennummer. Claudia war mit diesem Laden fertig! Trotzdem erklomm sie die Treppen. Schuld und Sühne. Sie dachte an ihr Vergehen. Sie hatte eine Bank ruiniert, und die guten Taten? Die Besuche in der Seniorenanlage? Aufregungen beschwor das jüngste Gericht herauf. Alles irgendwie Greifbare kam auf die Anklagebank und wurde zur Sprache gebracht. Geschworene stimmten für und wieder - noch eine Etage - sechzehn Stufen. Die Wartezeit war wie eine Untersuchungshaft. Man konnte nichts tun, außer sich Verteidigungsargumente zurechtzulegen. Endlose Treppenstufen, Aufzüge, in denen alle Etagentasten gedrückt waren, und rote Ampeln. Jedes Mal, wenn sie ungewollt warten musste, dann ging es wieder los, außer vorhin im Auto, als ihr Manuel begegnet war. Da wurde die Spirale unterbrochen. Sie hätte an ihre Sorgen gedacht, wenn er nicht gewesen wäre. Ging sie für Manuel die Stufen wieder hoch? War er Medizin für sie?
Die Sonne durchflutete das Büro, es sah sehr aufgeräumt aus. Die Sitzecke musste ein Designer angefertigt haben. Claudia hatte so etwas noch nie gesehen. Vorhin war ihr das nicht aufgefallen, nun gefiel es ihr sogar. Ihr neuer Arbeitsplatz war plötzlich zu einem Hauptgewinn geworden. Zudem hatte sie das erste Mal ihre Meinung durchgesetzt. Sie war wieder in der Spur. Sie hatte ihre Linie wiedergefunden, und ihr Traum lebte wieder auf. Sie konnte jetzt die Firma ihres Vaters retten, und das mit diesem attraktiven Mann an ihrer Seite.
„Frau