Anschließend stand Lewyn auf und ging zu Kayne hinüber. Er überprüfte seine körperliche Verfassung und den Zustand seiner Wunde: Der Junge hatte leichtes Fieber, befand sich aber ansonsten in einem stabilen Zustand. Die Wundheilung war ebenfalls vorangeschritten, die Blutung zumindest gestillt. Der Blonde rief das Mädchen zu sich, damit sie lernte, einen Verband zu wechseln. Sie folgte seinem Ruf und saß im Handumdrehen neben ihm im Gras. Der junge Mann verwendete erneut etwas von der Tinktur zur Schmerzlinderung sowie Entzündungshemmung der Schusswunde und wies Sheena Schritt für Schritt an, ihrem Bruder zu helfen; schließlich würde sie ihn die nächsten Tage alleine weiterpflegen müssen.
Während sie den Jungen verarzteten, wachte jener auf und gab einen zischenden Laut von sich. "Au, tut das weh …" Kayne hielt sich die Hand vor Augen, da ihn die Sonne blendete und er nichts um sich herum erkennen konnte. "Bruder …!", hörte er seine Schwester neben sich rufen. Als ihm seine Lage allmählich zu dämmern begann, schreckte Kayne nicht minder überrascht wie Sheena zuvor hoch – oder … versuchte es zumindest. In der Hälfte seiner Bewegung schrie er jedoch schmerzerfüllt auf und wurde sofort mit sanfter Gewalt zurück in die Decke gedrückt.
"Bleib ruhig liegen, dir wird nichts mehr passieren", sprach Lewyn besänftigend. "Mein Bein … m-mein Bein tut so weh …!", ächzte der Junge und griff nach seinem Oberschenkel. Als er den Verband sah, erschrak er und sah mit ängstlich aufgerissenen Augen zu Sheena. "Keine Sorge, Kay, du wirst im Nu wieder gesund werd'n un' bald wieder putzmunter sein!" Seine Schwester lächelte ihm aufmunternd zu.
Der Blonde vergewisserte sich, dass der Verband richtig saß, und holte dem Verletzen etwas zu trinken. 'Im Nu gesund werden', ts …! Und er schüttelte den Kopf. Es würde zahlreiche Wochen, gar Monate dauern, bis der Junge wieder halbwegs laufen konnte. Doch es war richtig von dem Mädchen, ihrem Bruder Mut zu machen.
Lewyn selbst machte sich allerdings Vorwürfe, in der letzten Nacht so schnell gehandelt zu haben. Doch in jedem ernsten Überfall wäre ein Zögern seinerseits tödlich gewesen. Nun gut, es war auch ein ernster Überfall gewesen; das Mädel hätte ihn schließlich beinahe erschossen. Der junge Mann sah zu den Kindern hinüber, hörte, wie sie sich angeregt unterhielten, und schüttelte erneut den Kopf …
Er hatte nicht das Gefühl, dass sie irgendjemanden auf dem Gewissen hatten – dafür waren sie viel zu unbeschwert. Vielmehr hegte Lewyn den Verdacht, ihr erstes Angriffsopfer gewesen zu sein. Andererseits war dies eine offizielle Handelsroute … Vielleicht hatten die beiden den ein oder anderen unvorsichtigen Bauern oder Händler überfallen, der gerade mit seinem Güterkarren auf dem Weg in die Stadt gewesen war. Wie dem auch sei. Solch ein Leben war falsch. Es war an der Zeit, dass ihnen jemand den Weg wies. Und dafür war die 'Zuflucht der Suchenden' ein guter Anfang.
Lewyn kannte einen Pferdezüchter in der Umgebung der zweiten großen Handelsbrücke, welche über den Tical zurück zum anderen Ufer – und damit nach Rafalgar – führte. Sein Pferdehof lag gut sichtbar für alle Reisenden in der Nähe des Handelsweges auf einer lichten Wiese mitten im Wald. Viele Händler und Botschafter ließen ihre Reittiere dort rasten und mieteten sich ausgeruhte Pferde für den weiteren Teil ihrer Reise, um auf dem Rückweg wieder ihre erholten Tiere mitzunehmen.
Das warme Sonnenlicht ließ die Wiese aus dem kühlen Schatten der Bäume heraus hell erstrahlen, während die unterschiedlichsten Pferde galoppierend durch das Gras tollten und dabei glücklich wieherten. Lydia wurde von der Freude ihrer Artgenossen spürbar angesteckt, denn sie schien es auf einmal sehr eilig zu haben, zu ihnen zu stoßen – ja, Lewyn musste sie am Zügel haltend daran hindern, die zwei Jugendlichen aus Versehen von ihrem Rücken zu werfen! Diese schienen von der Idylle dieses Ortes allerdings nicht minder begeistert; so rief Kayne aufgeregt: "Sieh, Schwester, dort!"
Ein schwarzes und weißes Pferd bäumten sich mit freudigem Wiehern voreinander auf und wichen dann jeweils zu den Seiten hin aus, bevor sie kreisförmig umeinander trabten und ihre Köpfe ab und zu aneinander rieben. "Werden wir den ganzen Weg zur Hauptstadt auf solchen Pferden reiten?", fragte Sheena begeistert. Lewyn lachte und erwiderte: "Ja, ansonsten würdet ihr ja ewig unterwegs sein, zumal dein Bruder nicht laufen kann." Er warf dem Jungen einen prüfenden Blick zu, doch jenem schien es bestens zu gehen. Die Aufregung bezüglich ihrer bevorstehenden Reise in die größte Stadt der Menschen schien ihn genug von seiner Verletzung abzulenken, dass er sogar unbeschwert lachen konnte. Das beruhigte den Blonden und bestätigte ihn in seinem Entschluss, diesen Kindern eine bessere Zukunft zu geben.
Als sie am Zaun angekommen waren, der das gesamte Gelände umfasste, öffnete Lewyn das Tor und hielt Ausschau nach dem Pferdehalter. Einige Reittiere waren zu ihnen gekommen und begrüßten die ihnen wohlbekannte Stute schnaubend, welche freudig ihre helle Mähne hin und her schüttelte. Die fremden Pferde wiederum hatten sich zurückgezogen und musterten die Neuankömmlinge neugierig bis misstrauisch.
"Na, wenn das mal keine Überraschung is' …!", rief eine tiefe Stimme plötzlich vom anderen Ende der Wiese zu ihnen herüber, wo sich ein größerer Stall befand. Ein stämmiger und hochgewachsener Mann trat aus dem Schatten jenes Gebäudes hervor und kam ihnen gelassen entgegen. Er trug nur eine halblange Hose und begegnete ihnen ansonsten mit nacktem, sonnengebräunten Oberkörper. Der junge Mann war kahlköpfig, durch breite Gesichtszüge gekennzeichnet und besaß einen Ohrring, während zwischen seinen Zähnen ein langer Grashalm herausguckte. Trotz seiner auf die Kinder eher Angst einflößenden Erscheinung zeugten seine dunklen Augen von einem warmen Charakter.
"Brey!", rief ihm Lewyn strahlend entgegen und begrüßte ihn mit einem herzlichen Händedruck, "Lange nicht gesehen …! Wie ich sehe, geht es deinen Hufe tragenden Freunden bestens!", und er warf den Pferden auf der Wiese einen bedeutungsvollen Blick zu. Der Pferdehalter erwiderte lachend: "Ja, denen könnt's nich' besser gehen! Die sind aufgeweckter denn je, wie du siehst …!", und er wies einladend zu den Ställen hin, "Aber komm doch erst mal rein und erzähl mir, was ich für dich tun kann." Der dunkelhäutige Mann musterte die Kinder auf der Stute kurz, ehe er über die Weide voranging.
Der vordere Teil des Gebäudes war gänzlich aus dunkleren, groben Holzstämmen errichtet und in zwei Stockwerke unterteilt, während der hintere Teil ein einziger großer Stall war. Die Eingangstür erreichte man über eine Holzterrasse, welche überdacht war und durch zwei schmale Holzsäulen gestützt wurde. Auf ihr stand eine lange, gemütlich wirkende Bank, von der aus man die gesamte Wiese hervorragend überblicken konnte – zumal das Haus erhöht lag und der ganze Hof auf einem leichten Abhang errichtet war.
Lewyn half Sheena, vom Pferd herabzusteigen, bevor er Kayne herunter hob und ihn zur Bank auf der Terrasse trug. Dort setzte er ihn vorsichtig ab und sagte zu den Jugendlichen gewandt: "Ruht euch hier ein wenig aus und genießt die Heiterkeit dieses Ortes. Ich kehre gleich zu euch zurück, nachdem ich mit meinem Freund gesprochen habe."
Das Mädchen weigerte sich jedoch und erwiderte mit geschürzten Lippen: "Ich trau' dem nich' …!" Der Blonde lachte leise und tätschelte ihren dunkelroten Schopf. "Du kannst ihm vertrauen, glaube mir!", und er blinzelte ihr aufmunternd zu, "Bleib lieber bei deinem Bruder und pass auf, dass ihn nicht plötzlich ein 'bösartiges Pferd' anfällt …!" Sheena verengte die Augen in sichtlicher Empörung, sodass der hellhaarige Mann erst recht grinsen musste. Dann setzte sie sich jedoch – wenn auch unter deutlichem Protest – neben ihren Bruder auf die Bank, verschränkte ihre Arme und schmollte vor sich hin. Lewyn schüttelte lächelnd den Kopf, ehe er durch die Haustür schritt und sie hinter sich angelehnt ließ.
Der junge Mann betrat einen ländlich eingerichteten, größeren Raum, der als Wohn- und Speisezimmer genutzt wurde. An einem der grob gearbeiteten, runden Holztische saß Brey bereits und hatte für ihn einen Wasserkrug sowie einen Becher bereit gestellt. Der Blonde setzte sich ihm gegenüber an den Tisch hin und faltete die Hände zusammen. "Also, Kumpel, was gibt's?", begann der Pferdezüchter in munterem Tonfall und beugte sich zu ihm vor, um etwas leiser hinzuzufügen: "Und wer sind eigentlich diese Kinder?"
Lewyn holte tief Luft und begann in gefasstem Tonfall: "Brey,