Sie ist sehr dünn, ein blasser Arm hängt über der Bettkante. Ihre Augen sind geschlossen, aber der Ausdruck in ihrem Gesicht ist alles andere als friedlich. Sie ist abgemagert, sieht um Jahre gealtert aus, nicht wie eine Fünfundzwanzigjährige in der Blüte ihres Lebens. Um ihren Mund liegt ein verhärmter Zug, sie hat mit ihrem Schicksal gehadert. Keine heroische Geschichte einer tapferen Frau, die ihr Schicksal mutig annahm und bis zuletzt Freude ausstrahlte. Nein. Das hier war die hässliche Seite einer Krankheit. Angst, Selbstaufgabe, Verzweiflung und Schmerzen waren an der Tagesordnung gewesen.
Ich habe nie viel von meiner zerrütteten Familie gehalten, meine Zwillingsschwester Carol war das einzige menschliche Wesen, das mir etwas bedeutet hatte - bevor Laurie in mein Leben getreten war. Weshalb hasste mich das Schicksal so sehr?
Mein Rücken schmerzte, weil ich stundenlang auf dem unbequemen Krankenhausstuhl neben Carols Bett saß und immer wieder über ihre kalten Finger strich. Ich war alles, was sie hatte und vermutlich der einzige, den ihr Tod wirklich berührte. Wir waren uns immer nah gewesen, obwohl wir unser eigenes Leben geführt hatten. Ich habe sie beschützen wollen, habe ihr damals sogar eine geknallt, als ich sie das erste Mal mit Drogen erwischte. Sie sollte nicht dieselben Fehler machen wie ich. Als wir noch im Haus meines Vaters lebten, musste ich sie vor seinen Schlägen bewahren und sie trösten, wenn er im Suff ihr Zimmer verwüstete. Unsere Mutter war schon geflüchtet, als Carol und ich noch zur Grundschule gingen. Ich hasste sie dafür, dass sie uns mit einem Schläger allein gelassen hatte. Dieser Penner lief noch immer putzmunter herum, während meine Schwester tot in diesem sterilen unpersönlichen Krankenhausbett lag. Das Leben war nicht fair.
Ich fuhr herum, weil die Tür hinter mir knarrte. Augenblicklich stieg Wut in mir auf, als ich in ein altbekanntes Gesicht sah.
»Was willst du hier? Verpiss dich!« Ich räusperte mich, weil meine Stimme vom langen Schweigen belegt war.
»Ich wollte mich nur kurz verabschieden. Ist doch mein Recht, oder?«
In einer automatisierten Bewegung sprang ich vom Stuhl auf, verkrampfte die Muskeln und ballte die Hände neben dem Körper zu Fäusten. »Bist du wieder betrunken? Du hast von allen Menschen das wenigste Recht, Carol noch einmal zu sehen. Hau ab!« Ich konnte nichts dagegen tun, dass ich laut wurde und ihn anschrie. Er widerte mich an. Er trug einen fleckigen Pullover und eine speckige Baseballcap, unter seinen Augen leuchteten tiefe dunkle Ringe.
»Sie war meine Tochter! Von dir lasse ich mir doch nichts vorschreiben, Bürschchen!« Er tat einen Schritt auf mich zu und hob drohend die Hand, nahm sie jedoch wieder herunter. Ich war nicht mehr der schwache kleine Junge, den man ungestraft schlagen konnte. Ich überragte meinen Vater um eine halbe Kopflänge.
»Wenn sie dir je irgendetwas bedeutet hat«, ich senkte bedrohlich die Stimme, »gehst du jetzt und lässt ihr ihren Frieden. Sie hätte dich nicht sehen wollen. Wo warst du, als es ihr schlecht ging? Wer hat ihre Hand gehalten, wenn sie Schmerzen hatte? Du etwa? Spiel bloß nicht den liebenden Vater, sondern zieh Leine und misch dich nie wieder in mein Leben ein.«
»Natürlich, weil du auch ein Heiliger bist, der nie etwas falsch gemacht hat!« Er stand so nah vor mir, dass ich den Alkohol in seinem Atem riechen konnte. »Du machst mit Minderjährigen rum, findest du das gut?«
»Was hat Laurie damit zu tun? Lass sie aus dem Spiel!« Jetzt wurde ich doch wieder laut, obwohl ich es mir verkneifen wollte.
Die Tür knarrte erneut. Eine zierliche blonde Krankenschwester streckte den Kopf durch den Türspalt. »Was ist hier los? Meine Herren, ich muss sie bitten zu gehen, wenn sie sich respektlos verhalten. Es ist ohnehin schon spät.« Sie warf mir einen mitleidigen Blick zu. »Sie sind seit Stunden hier ohne etwas gegessen oder getrunken zu haben.«
Ich knurrte und presste den Mund zu einem schmalen Strich zusammen, erwiderte aber nichts. Mit einem Mal überkam mich ein Fluchtinstinkt. Ohne meinen Vater noch eines Blickes zu würdigen, drehte ich mich noch einmal zu Carol um. Ich kämpfte mit den Tränen. Dann wandte ich mich ab und stapfte aus dem Krankenzimmer, wobei ich meinen Vater, der die Bezeichnung nicht verdiente, anrempelte. Die Krankenschwester sprang vorsorglich aus dem Weg. In mir brodelte ein Vulkan aus Wut und Verzweiflung. In diesem Zustand würde ich heute nicht mehr zu Laurie fahren. Die Gefahr war zu groß, dass ich mich daneben benahm. Ich war völlig neben der Spur. Der Tod meiner Schwester riss mir den Boden unter den Füßen weg. Weshalb starben Menschen? Weshalb ausgerechnet sie? Weshalb so qualvoll? Es schauderte mich bei dem Gedanken, so zu enden wie sie. Ich habe für sie stark sein müssen, habe mir nicht anmerken lassen dürfen, dass mich ihr Anblick entsetzte. Jetzt brachen die Emotionen aus mir heraus, allem voran nackte Angst. Sie war meine Zwillingsschwester gewesen, trug auch ich die Krankheit wie eine tickende Zeitbombe in mir? Verdammt, ich hatte Angst!
Als ich in die kühle Nachtluft und den peitschenden Regen vor dem Krankenhaus hinaus trat, fasste ich einen Entschluss: Ich würde eine Möglichkeit finden, den Tod zu überlisten. Mich würde er nicht holen, koste es, was es wolle ...
***
Seit über einer halben Stunde ratterte der Zug schon Richtung Süden. Lilly war an der New Jersey Transit Middletown Train Station eingestiegen und hatte sich mit ihrem riesigen Koffer in eine freie Viererbank gesetzt. Mit pochendem Herzen hatte sie die ganze Zeit über aus dem Fenster geschaut. Die Fahrt bis zur Pennsylvania Station in Manhattan sollte nur vierzig Minuten dauern. Lilly hatte kurz darüber gestaunt, wie schnell man diesen Sündenpfuhl erreichen konnte. Damals, als sie zur Identifizierung der Leiche ihrer Mutter nach NYC gefahren war, hatte ihre Tante Joy sie mit dem Auto gebracht. Lilly hatte keine Erinnerungen mehr daran, es war wie ein Filmriss in ihrem Gedächtnis. Davor und danach war sie nie in New York City gewesen.
Für die Zugfahrt hatte sie einundzwanzig Dollar bezahlt, eine Summe, die zwar ein Loch in ihr mageres Budget riss, aber als Investition in die Zukunft geopfert werden musste. Das Telefongespräch mit Gabriel Black, dem Besitzer des Moonbeam Bar & Restaurant, war kühl und nüchtern verlaufen, er hatte ihr jedoch angeboten, sich das Lokal anzusehen, zur Probe zu arbeiten und bei beiderseitigem Gefallen dauerhaft zu bleiben. Lilly hatte es überrascht, dass es so schnell ging und fragte sich, wo der Haken war. Immerhin hatte er sie noch nie gesehen. Mr. Black war jedoch sehr angetan gewesen, als sie erzählte, dass sie bereits Erfahrungen im Hotelbetrieb gesammelt hatte. Vermutlich hatten sich sonst nur verwahrloste drogenabhängige Penner um die Stelle beworben, die in ihrem ganzen Leben noch keinem festen Tagesrhythmus nachgegangen waren. In Lillys Vorstellung bestand fast ganz New York City aus dieser Spezies Mensch, es hätte sie eigentlich nicht verwundern sollen. Die Tatsache, dass Mr. Black sie sofort zum Probearbeiten eingeladen hatte, milderte diesen Eindruck nicht gerade ab. Wer Lilly mit Kusshand nahm, musste wirklich schlechte Erfahrungen gemacht haben.
Ihrer Cousine hatte sie natürlich nicht die Wahrheit erzählt. Sie konnte sich ihr Gesicht mit den skeptisch nach oben gezogenen Augenbrauen bildlich vorstellen. Eine Miene, die nach 'Hast-du-den-Verstand-verloren?!' schrie. Nun ja, vielleicht hatte sie das tatsächlich. Anders konnte sie sich selbst nicht erklären, weshalb sie im Zug nach NYC saß. Eine Kurzschlussreaktion, die, wenn sie Glück hatte, endlich eine positive Wendung in ihr Leben brachte, wobei die Begriffe 'positiv' und 'New York City' eigentlich nicht zusammenpassten. Selbstverständlich hatte Lilly sich eine Hintertür offen gelassen, indem sie Alexis erzählt hatte, sie würde lediglich mit alten Schulfreunden ein paar Tage verreisen, weshalb sie nur mit einem großen Koffer aufgebrochen war. Sollte die Sache ein Reinfall werden, könnte sie nach ein paar Nächten in einem billigen Hotel noch immer zu Alexis zurückkehren, und niemand würde je Fragen stellen. Sollte es wider Erwarten mit dem Job und einer Unterkunft klappen, würde sie ihre restlichen Habseligkeiten abholen und Alexis mit einem breiten Grinsen im Gesicht verkünden, dass sie nun ihr eigenes Leben führen würde. Natürlich tat es ihr weh, ihre Heimatstadt und das Grab ihrer Mutter zurückzulassen, aber Middletown war nicht aus der Welt. Vierzig Minuten Zugfahrt lagen absolut im grünen Bereich.
Lilly hatte gehofft, auf der Fahrt einen ersten Eindruck von der Stadt zu erhaschen, aber der Zug war bereits viele Meilen vor New York in einen unterirdischen Tunnel eingetaucht. War vielleicht auch besser so, dachte Lilly. Sonst hätte ich womöglich direkt einen Schock bekommen. Bei