Kein Wunder also, dass sich die Untertanen Zain-ul-Abidins unter seiner Regentschaft wohl gefühlt haben müssen und ihn deshalb zum Budshah erklärten. Vereinte er doch, im Gegensatz zu seinem grausamen Vater, sämtliche Eigenschaften eines verantwortungsbewussten Staatsmannes, der - um es neudeutsch zu umschreiben - auf Kommunikation, Integration und politische Allianzen setzte, nicht auf Konfrontation. Gegen Ende seines Lebens wurde das Reich Zain-ul-Abidins von Naturkatastrophen heimgesucht. Überschwemmungen und Hungersnöte bedrohten die wirtschaftliche Existenz des Königreiches Kaschmir, und auch innenpolitisch stand nicht mehr alles zum Besten. Die Sayyiden, welche auch die gleichnamige Dynastie in Delhi gründeten, breiteten sich in Kaschmir aus. Seine Söhne stritten miteinander um die Macht und die Nachfolge des Vaters. Die Machtverhältnisse wurden zunehmend instabil. Im Jahr 1470 starb der beliebte Regent. Nach dem Tod Zain-ul-Abidins gewannen immer wieder wechselnde Stammesführer an Einfluss, dem sich auch die jeweiligen Herrscher kaum widersetzen konnten. Kaschmir versank erneut für einige Zeit in politischer Unsicherheit und religiösem Zwist, den auch Schiiten und Sunniten miteinander austrugen (vgl. Dhar 1999, S. 60).
So waren die soziopolitischen Errungenschaften des Budshah zwar nicht von Dauer, die kollektive Erinnerung an die entsprechenden Werte lebt aber bis heute im kulturellen Selbstverständnis vieler Kaschmiris weiter. Auch von seiner Weltoffenheit kündet in der Altstadt Srinagars noch ein weithin sichtbares Monument. Es ist das Grabmal seiner Mutter, das er im persischen Stil für sie errichten ließ. Hinter dem großartigen Bau befindet sich ein kleiner Friedhof, umgeben von einer Mauer. Darin, so glaubt man, befindet sich auch das Grab des Budshah höchst selbst (Archeological Survey of India). Fast scheint es, als wolle er bis in alle Ewigkeit darüber wachen, dass die fragilen Werte religiöser Toleranz und politischer Weltoffenheit nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden.
2.3. Von Schreinen und Moscheen
Orte des Friedens, Brutstätten des Zorns
Es ist noch früh am Freitagmorgen, und in der Jamia Masjid (Freitagsmoschee) am Rand der Altstadt von Srinagar herrscht noch wohltuende Ruhe. Trutzig ragen die pagodenhaften Türme der Moschee aus der niedrigen Silhouette der alten Holzhäuser empor. Um die Moschee herum halten Händler ihren Markt ab, und viele Menschen nutzen den Freitag zum Einkaufen. Es scheint ein friedlicher Tag zu werden, aber die massive Präsenz der Sicherheitskräfte deutet darauf hin, dass heute auch Besucher mit weniger friedlichen Absichten erwartet werden. Die Befürchtungen sind begründet, denn in der Freitagsmoschee treffen sich immer wieder gewaltbereite Jugendliche, die nach dem Freitagsgebet ihrem Unmut über die vermeintliche indische Besatzung in Kaschmir Luft verschaffen. Sie sind Teil einer Bevölkerung, die sich nicht mit dem politischen Status Kaschmirs als „indische Provinz“ abfinden will.
Anders als bei dem nur wenige hundert Meter entfernt gelegenen Schrein des Dastagir Sahib ist es nach dem Freitagsgebet in der gleichnamigen Moschee schon fast Ritual, die Sicherheitskräfte mit einem Steinhagel einzudecken und sich stundenlange Straßenschlachten mit ihnen zu liefern. Mittlerweile ist es Mittag, und im gleichen Maße, wie die Händler ihre Stände wohlweislich schließen, strömen die Gläubigen zum Gebet, während die Soldaten strategische Punkte um die Moschee einnehmen. Noch ist alles friedlich in den religiösen Stätten Srinagars, von denen die wichtigsten nahe beieinander liegen. Zahlreiche Gläubige halten gemeinsam das Freitagsgebet an den Schreinen des Dastagir Sahib, des Shah-i-Hamadan und des Naqshband Sahib. Im Gegensatz zu einer Moschee wird ein Schrein immer mit einer bestimmten Person oder einer bestimmten Handlung assoziiert. Meist wird in einem Schrein auch eine Reliquie des entsprechenden Heiligen aufbewahrt. Das kann seine Grabstätte sein oder auch nur ein Barthaar oder ein Fußabdruck. Generell fallen Schreine damit in die Kategorie volksreligiöser Betätigungen, während Moscheen in aller Regel orthodoxen Strömungen des Islam zugerechnet werden können.
Derweil hält der Mirwaiz, das religiöse Oberhaupt der Freitagsmoschee in Srinagar, seine traditionelle Freitagspredigt. Ähnlich christlichen Sonntagspredigten thematisiert er dabei alles, was seiner Meinung nach Einfluss auf das Verhalten der Gläubigen haben könnte. Politische Missstände werden genauso angeprangert wie „moralischer Verfall“ der Gesellschaft. Mitunter sind es flammende Reden, die den Ort des Gebets in ein brodelndes Tollhaus voller Zorn und Gewaltbereitschaft verwandeln. Besonders viel Mühe braucht es nicht für den Mirwaiz, um die Zuhörer von seinen Ansichten zu überzeugen. Schließlich ist er auch der Führer einer politischen Widerstandsbewegung in Kaschmir, der All Parties Hurriyet Conference (APHC). Außerdem liegt die Freitagsmoschee in dem Teil Srinagars, der wohl am meisten unter den Repressalien der Sicherheitskräfte zu leiden hat. Und da man gemeinhin dort sein Freitagsgebet verrichtet, wo man wohnt, finden sich zu diesem Zeitpunkt überproportional viele Unzufriedene an jenem Ort ein. Viele Jugendliche sind darunter, und sie werden nach Abschluss des Gebets den draußen versammelten Sicherheitskräften eine Lektion in punkto Gewaltmonopol und taktische Straßenkampfführung erteilen.
Es ist ein eingeübtes Muster, nach dem die Ereignisse fast jeden Freitag ablaufen, aber besonders dann, wenn eine der zahlreichen Widerstandsgruppen zum Streik aufgerufen hat. Eine Routine des Widerstands gegen die als ungerecht empfundene Besetzung Kaschmirs durch indische Truppen. Zugleich handelt es sich bei derartigen Demonstrationen jugendlicher Gewaltbereitschaft auch um Rituale des Erwachsenwerdens in einer Umgebung, die seit nunmehr fast 20 Jahren in politischem Unrecht und militantem Widerstand versinkt. Für die Jugendlichen ist die Verbindung von religiöser Identität, Unrechtserfahrung und Kampf eine logische, und sie wird im jeweiligen sozialen Umfeld positiv sanktioniert.
Die Lage in Kaschmir ist derart verfahren, so die Überzeugung vieler Menschen, weil ein muslimisches Land von Andersgläubigen dominiert wird, und die Glaubensbrüder getötet werden. Da die eigene Regierung völlig korrupt ist und nicht bereit, gegen diese Ungerechtigkeit anzugehen, muss die Jugend des Landes die Dinge in die Hand nehmen. Wer sich also an entsprechenden Unternehmungen gegen die Sicherheitskräfte beteiligt, tut dies für die eigene Gesellschaft, für die Herstellung der Ehre, die jeden Tag mit Füßen getreten wird. Selbstverständlich weiß - außer den Sicherheitskräften - in den Mohallahs (Nachbarschaften)