Um Jalobhava und seine Helfer unschädlich zu machen, unterzog sich der Seher einer starken Askese, aufgrund derer ihm die Gottheiten Brahma, Vishnu und Shiva zu Hilfe eilten. Es stellte sich jedoch bald heraus, dass dies nicht so einfach war wie gedacht. Auch der Donnergott Indra hatte bereits vergeblich versucht, des Wasserdämons Herr zu werden, war jedoch gescheitert. Vishnu nahm die Gestalt eines Bären (Vahara) an und zerstörte die das Kaschmir-Tal umgebenden Berge bei der Stadt Vaharamula, die an der Stelle des heutigen Baramulla lag (Puri 1997, S. 3). Das Resultat dieser Zerstörung war so nachhaltig wie unerfreulich für den Dämon Jalobhava und seine Helfer. Das Wasser des Satisaras lief nämlich ab, und das Kaschmir-Tal kam nach und nach zum Vorschein. Noch gab sich der Dämon aber nicht geschlagen. An der Stelle des heutigen Srinagar, der Hauptstadt des Kaschmir-Tals, versteckte sich der Wasserdämon im Schlamm des niedrigen Überbleibsels des Sees und hielt seine Verfolger zum Narren. Andere Autoren, wie zum Beispiel Morris, verorten diesen Platz im heutigen Wular-See, der im Norden des Kaschmir-Tals liegt. Am Ende jedoch wurde der Dämon ausfindig gemacht und getötet. Nach dem Tod ihres Meisters verloren die übrigen Dämonen den Mut, und die Belästigungen gegenüber Göttern und Menschen hörten größtenteils auf. Nach und nach konnte das Kaschmir-Tal während der Sommermonate besiedelt werden. Die Winter jedoch gehörten immer noch den Dämonen, da die frühen Siedler während dieser Periode in wärmere Gegenden abwanderten. Das ging so lange, bis eines Winters ein alter Brahmane im Tal blieb. Er wurde von den übriggebliebenen Dämonen gepackt, in den kleinen Rest-See geworfen und schließlich vor den König der Schlangen (Nila Naga), der der Sohn des Sehers Kashyap war, gebracht. Dort beschwerte sich der Brahmane über die ungebührliche Behandlung. Als er dies hörte, gab ihm der König das Buch Nilamata Purana und machte ihn mit dessen Geheimnissen vertraut. Wenn er dessen Anweisungen befolge, so der König, würden die Dämonen aufhören, ihn zu belästigen. Im darauf folgenden Frühling wurde er wieder an Land gesetzt, wo er die Anweisungen des Nilamata Purana an die anderen Siedler weitergab. Von diesem Zeitpunkt an war es möglich, das Kaschmir-Tal permanent zu bewohnen (Puri 1997, S. 3).
Geologische Anhaltspunkte
Der Mythos von der Entstehung und Besiedelung des Kaschmir-Tals korrespondiert in gewisser Weise mit wissenschaftlichen Erkenntnissen, wobei diese jedoch dürftig sind. Demnach muss in prähistorischer Zeit tatsächlich ein riesiger See an der Stelle des heutigen Kaschmir-Tals gelegen haben. Irgendwann wurde durch ein Erdbeben nahe der heutigen Stadt Baramulla ein natürlicher Abfluss für den See geschaffen, durch den im Lauf von Jahrhunderten das Wasser abfließen konnte. Nach und nach wurde der See Satisaras zum Kaschmir-Tal. Noch heute sind an verschiedenen Stellen des Kaschmir-Tals die Sedimentschichten des ehemaligen Sees sichtbar, und auch zahlreiche Funde von Muscheln und Wasserschnecken untermauern diese These.
Historische Anhaltspunkte und Interpretationen
Zur Zeit der Besiedelung könnten die Winter in der Region sehr kalt gewesen sein, was die ersten Bewohner des Tals bewegt haben könnte, während dieser Jahreszeit in südlicher gelegenen Regionen auszuharren, bis es wieder Frühling wurde. Im Lauf der Jahrtausende jedoch wurde das Klima gemäßigter und erlaubte den Bewohnern eine permanente und sesshafte Lebensweise, wobei jedoch bis heute keine Artefakte gefunden wurden, die weiter zurück als bis in die Jungsteinzeit reichen. So sind die meisten Schlussfolgerungen über das vorgeschichtliche Kaschmir spekulativ und mit Vorsicht zu genießen. Der fruchtbare Boden des Kaschmir-Tals, der einstmals der Schlamm des Sees gewesen war, erlaubte es den Menschen, erfolgreich Landwirtschaft zu betreiben, eine bis heute weit verbreitete Art im Kaschmir-Tal, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Der Name „Kaschmir“ scheint, einer Interpretation zufolge, aus den Wortstämmen „ka“ und „samira“ [Land, welches durch Wind (samira) vom Wasser befreit wurde] zusammengesetzt zu sein (Puri, 1997, S. 4). Andere Quellen bringen den Namen „Kaschmir“ mit Stämmen in Verbindung, die sich „Kash“ nannten und Städte wie Kashgar und Kashan gegründet haben sollen. Diese Thesen sind jedoch weder gesichert noch belegt. Dennoch ist es logisch und üblich, dass sich kulturspezifische Mythen auch an Umweltfaktoren der Menschen orientieren. Äußere Lebensumstände, wie in diesem Fall kalte lange Winter, zwingen die Menschen zum entsprechenden Handeln und lassen sie andererseits nach Erklärungen suchen, die ihr Schicksal in einen erweiterten, höheren Zusammenhang stellen. Somit ist der Mythos von der Entstehung des Kaschmir-Tals eine Geschichte von Besiedelung und dem Wachsen von Kultur. Tatsächlich lassen sich im Kaschmir-Tal auch heute noch sowohl Lebensformen als auch geologische Anhaltspunkte ausfindig machen, die in Zusammenhang mit dem Mythos von der Entstehung Kaschmirs gebracht werden können.
Noch immer existieren Semi-Nomaden wie beispielsweise die vor langer Zeit zugewanderten Gujjars, die während des Winters mit ihrem Vieh in die Rajouri - Region nahe der Stadt Jammu wandern, während sie die Sommermonate auf den Hochalmen des Kaschmir-Tals verbringen. Zwar haben auch bei ihnen zwischenzeitlich Coca-Cola und Mobilfunk Einzug gehalten, aber warum sollten sie deshalb eine Lebensweise aufgeben, die sich für sie bewährt hat und auf deren Tradition sie mit Selbstbewusstsein zurückblicken? Nahe der Stadt Baramulla existiert tatsächlich eine Art Abfluss im Fels, von dem allgemein angenommen wird, dies sei die Stelle, an der Satisaras das Tal verlassen habe. Schlüssige Beweise hierfür existieren freilich ebenfalls nicht. Heute ist es jedoch der Fluss Jhelum, der hier das Kaschmir-Tal verlässt und in den pakistanischen Teil Kaschmirs fließt. So verweisen auch heute noch zahlreiche Spuren im Leben und den Erzählungen der Menschen auf ihre mythische Herkunft. Eine Herkunft, auf die - obwohl ungesichert und teils im Dunkeln liegend, viele Kaschmiris stolz sind.
1.2. Ratarangini - der Fluss der Könige
Historischer Überblick über die ereignisreiche Geschichte Kaschmirs
Als der Chronist Pandit Kalhana im 12. Jahrhundert, wahrscheinlich im Jahr 1148 n. Chr., sein Werk Rajatarangini (Fluss der Könige) fertig stellte, blickte Kaschmir bereits auf mehr als dreitausend Jahre Geschichte zurück. Zahllose Machtkämpfe und Kriege prägten die bisherige Vergangenheit Kaschmirs, und Pandit Kalhana war es als Erstem gelungen, eine akribische Chronik der Macht- und Lebensverhältnisse im frühen Kaschmir zu erstellen. Eine Chronik, die in späteren Jahren immer wieder kopiert und interpretiert wurde, und die bis zum heutigen Tag wichtige und verlässliche Anhaltspunkte zum Studium der frühen gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse Kaschmirs liefert.