Es könnte auch das mehrtägige „Berlinseminar“ Anlaß für die Bemerkung Weissers gewesen sein. Aber ein mittelbarer Anlaß. Es war mein erstes Stipendiatenseminar. Es war grauenvoll. Kalter Krieg pur und plump. Jeder Stipendiat ist verpflichtet, einen Seminar– und Erfahrungsbericht an den Leiter der staatsbürgerlichen Erziehung zu schicken. Eher zufällig unterhalte ich mich über das primitive Niveau des Seminarprogramms mit Otto Blume, dem Vertrauensdozenten für die Stipendiaten in Köln. Er möchte gern meinen Seminarbericht lesen, bevor ich ihn nach Bonn schicke. Er liest ihn und ermahnt mich, den Bericht nicht so abzuschicken, selbst wenn meine Kritik zutreffen sollte. Nun, ich würde die Kritik nicht so formuliert haben, wenn ich selbst nicht davon überzeugt gewesen wäre. Auch ich habe meine Vorstellung von demokratischer Erziehung und Meinungsfreiheit. Ich schicke den Bericht ohne „diplomatische“ Korrekturen. Und wie gesagt, Gerhard Weisser ist Vorsitzender der Stiftung.
Wie auch immer. Die Finanzierung der Stelle läuft aus. Die Friedrich–Ebert–Stiftung hat angeblich dafür nach 10 Monaten keine Mittel mehr zur Verfügung. Ich habe für Weisser nie schreiben müssen. Ich habe für ihn nie geschrieben. Er hat nie Kritik an meiner Arbeit geäußert. Nur das Verhältnis der Friedrich–Ebert–Stiftung zu mir ist vergiftet. Das ist sicherlich keine uninteressante, aber vielleicht an anderem Ort zu erzählende, Geschichte. Ich habe nicht häufig das monatliche Stipendiumsgeld in Anspruch nehmen müssen. Dennoch hat es regen Schriftverkehr gegeben. Zunächst mit Grünwald, später nur mit Nau, Weisser und Willi Eichier. Am 28. März 1961 wurde mein Stipendium wieder einmal storniert. Nicht endgültig. Endgültig eigentlich am 4. Mai 1961. Die Begründung von Nau bei der Stornierung:
„ich darf hierbei noch erwähnen, daß die Mitglieder des Prüfungsausschusses einstimmig die Ansicht vertreten haben, daß Sie bis zu diesem Zeitpunkt Ihre schon seit längerer Zeit in Arbeit befindliche Dissertation zum Abschluß gebracht haben können.“
Dies ist bisher die allerletzte Äußerung seitens dieser Stiftung mir gegenüber gewesen. Ich stehe offensichtlich noch heute auf einer sicherlich nicht existenten „schwarze Liste“ der Stiftung. Ich bin dennoch der Stiftung dankbar. Die Stiftung hat mir viel gegeben. Ohne die Stiftung würde ich wahrscheinlich Carlo Schmid, Fritz Erler, Heinz Kühn, Willy Eichler und Hans–Jürgen Wischnewski nicht gekannt haben.
1959 beginnt auch meine publizistische Laufbahn in der Monatsschrift „Geist und Tat“. Herausgegeben von Willy Eichler. Thema: Sozialisten in Indien. 1959 beginnt auch meine Vortragstätigkeit. Das wichtigste Ereignis ist aber, daß der Fragebogen für die Untersuchung über die Situation der afrikanischen und asiatischen Studierenden in Deutschland nach Voruntersuchungen endgültig fertig ist. Daß meine Frau keine Arbeitsstelle in Bonn findet, kommt diesem Projekt zugute. Unbezahlte Mitarbeit, versteht sich. Sie ist mir eine unschätzbare Hilfe. Der Bundesvorstand des ISSF und die Unesco, Paris, ist mit dieser Entwicklung einverstanden. König billigt das Projekt inhaltlich und bescheinigt, daß das Projekt unter seiner Aufsicht läuft. Doch ist das Projekt auch ein finanzielles Abenteuer. König hat sicherlich bei Zeiten geahnt, daß 5000,- US-$ nicht ausreichen würden, die Sachkosten für eine Untersuchung an den Universitäten in Berlin, Hamburg, Heidelberg, München und Tübingen mit lnterviewerausbildung und Interviewhonoraren abzudecken. Aber er sagt nichts. Er schreibt aber die notwendigen Briefe an die entsprechenden Universitäten. Er will offensichtlich abwarten, wie die Feldarbeit tatsächlich an– und abläuft.
Wir wissen genau, daß es knapp werden würde, die Erhebung zum Abschluß zu bringen. An eine Aufwandsentschädigung unserer Arbeit war nicht zu denken. Im Februar 1960 lagern 386 ordentlich ausgeführte Interviewbögen von einem Sample von 479 in unserer kleinen Bleibe in Bonn, Weberstraße 96. Studierende aus Ägypten, Indien, Indonesien, Jordanien, Ghana, Nigeria und Norwegen. Norwegen als eine Kontrollgruppe. Aber das Geld ist fast alle. Es reicht nur noch für die Lochkarten und für die Leihgebühr für einen mechanischen IBM–Handlocher aus der 1. Generation.
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Im 2. Semester in Köln habe ich die Zahl meiner Veranstaltungsbesuche radikal gekürzt, obwohl ich für das 1. Semester 100 % Gebührenerlaß bekommen habe. Fleißprüfung. Später habe ich keine Studiengebühren mehr entrichten müssen. Ich besuche nur die Hauptseminare und Hauptvorlesungen in Ethnologie, Philosophie und Soziologie. Die Veranstaltungen haben wenig gebracht und viel Zeit gekostet.
Noch bevor die Interviewbögen aus den einzelnen Universitätsorten zurück sind, habe ich König gefragt, ob er bereit wäre, einen Antrag für die notwendigen Mittel für die Auswertung der Untersuchung zu stellen. „Nein“, sagt König, „den Antrag müssen Sie schon selbst formulieren und für den ISSF stellen. Wenn er begründet ist, werde ich ihn befürworten.“ Ich stelle den Antrag für den ISSF an das Hochschulreferat des Auswärtigen Amtes und König befürwortet den Antrag am 19. Februar 1960:
„ich bin über die ganze Untersuchung, die von meinem Institut wissenschaftlich betreut wird, eingehendst informiert. (...) Gleichzeitig möchte ich darauf hinweisen, daß die Erfahrungen, die wir bisher mit Herrn Aich gemacht haben, ganz ungewöhnlich gut sind. Es handelt sich hier um einen sehr selbständigen, ungewöhnlich klugen und sehr liebenswürdigen jungen Mann, der für die ganze Untersuchung ein sehr persönliches Engagement mitbringt.“
Im März ist die Schlüsselliste und die Kodierung fertig. Es ist eine verrückte Zeit. Gleich nach dem Frühstück beginnen meine Frau und ich mit der Kodierung. Während meine Frau das Mittagessen bereitet, übertrage ich die Daten von Kodeblättern auf Lochkarten. Der Handlocher macht einen höllischen Krach. Unsere Wirtin, Fräulein Lehner, nimmt dieses Hämmern billigend in Kauf. Es müsse halt sein, meint sie. Nach dem Mittagessen wieder kodieren. Beim Kochen des Abendessens lochen. Wieder kodieren, bis es endlich Zeit wird für die Spätvorstellung im Kino um 22.30 Uhr. Zum Entspannen. Fräulein Lehner geht immer mit. Ab dem zweiten Tag beginne ich mit dem Lochen, während meine Frau den Frühstückstisch deckt. Wir sind ein effizientes Team, mehr als nur die Addition zweier fleißiger Arbeitskräfte. Auch die späteren Arbeiten, vor allem die hier im Mittelpunkt stehende Geschichte, wären ohne diese Team-Effizienz und ohne die gegenseitige Verläßlichkeit nicht entstanden.
Ende März ist die Randauszählung fertig. Erstellt mit der IBM–Sortiermaschine im „Institut für Selbsthilfe“. Ich lege sie König vor. König schickt eine ergänzende Stellungnahme an das Auswärtige Amt am 30. März 1960:
„hiermit möchte ich mir erlauben, zu dem Antrag um einen Zuschuß für eine Forschungsarbeit ... durch Herrn Prodosh Aich Stellung zu nehmen. Ich darf Sie daran erinnern, daß die Untersuchung unter unserer Überwachung läuft. Ich kenne Herrn Aich schon seit längerer Zeit, da er sehr intensiv bei uns mitgearbeitet hat. Jetzt, nachdem die ersten Ergebnisse seiner Erhebung eingegangen sind, kann ich beurteilen, daß ich mich in ihm nicht nur nicht getäuscht habe, sondern daß er sich auch als ein ganz ausgezeichneter Forschungsleiter bewiesen hat. Aus diesem Grunde möchte ich ganz persönlich den Antrag des Internationalen Studentenbundes befürworten. Gleichzeitig möchte ich bemerken, daß die ersten Ergebnisse bereits zeigen, wie interessant die vorliegende Untersuchung zu werden verspricht. Es wäre also äußerst unglücklich, wenn man sie auf dem Viertelswege liegen lassen wollte. Ich bin sicher, daß diese Studie für die Behörden von größter Wichtigkeit werden wird, wenn die Ergebnisse erst gesamthaft ausgewertet sein werden.“
Die folgenden Monate sind finanziell äußerst hart. Meine Tätigkeit für Weisser ist beendet. Dafür erhalte ich mein Stipendium von 250,- DM, Honorare für Aufsätze, Vorträge und gelegentliche