Zwei Lichter, unten am Strand. Sie kommen!
Ich kauere mich tiefer ins Gebüsch, Andreas ist dicht neben mir. Ich merke, wie er den Atem anhält, auch ich erstarre völlig, ziehe den Kopf ein und wage kaum, in die Richtung zu schauen, aus der die Männerstimmen näher kommen. Es sind die Grenzposten, die regelmäßig den Strand kontrollieren und nach verdächtigen Dingen suchen. Wenn sie einen Hund dabeihaben, werden sie uns finden, dann ist alles bereits hier zu Ende.
Die Männer sprechen leise, verstehen kann ich sie nicht. Ein unruhiges, flackerndes Licht huscht durch die Zweige, kommt auf uns zu. Sie durchsuchen mit Taschenlampen das Gebüsch am Strand. Andreas drückt sich an mich. Das Licht tanzt vor unseren Augen, streift uns beinahe.
Dann erlischt es wieder. Die Männer bleiben stehen. Kein Hund, ein Glück.
Ich höre ein Räuspern. Wieso gehen sie nicht weiter? Mein Herz rast so stark, dass ich fürchte, sie könnten es hören. Wie in der Geschichte von Edgar Allan Poe.
Ein Licht glimmt auf, der Ausschnitt eines Gesichts im schwachen Lichtschein, dann ein zweites Licht. Zigaretten. Geruch nach Rauch, ganz leicht nur. Die beiden Posten gehen langsam weiter den Strand hinunter.
»Oh Mann«, flüstert Andreas neben mir. »Schwein gehabt.«
Der Wind ist kühl, ich friere. Wie soll es erst im Wasser sein? Vorhin haben wir uns mit Vaseline eingerieben und über zehn Tuben verbraucht. Ulrich hat mir den Tipp gegeben, so viel wie möglich aufzutragen. Im Wasser verliert der Körper viermal so schnell Wärme wie an der Luft. Wir müssen schnell schwimmen, um warm zu bleiben. Wir müssen das Gleichgewicht halten zwischen Wärmeerzeugung und Wärmeverlust, würde unser Physiklehrer Herr Kowalski sagen.
Die Vaselinetuben habe ich in der Drogerie gekauft, immer nur zwei auf einmal, damit es nicht auffiel. Doch beim letzten Mal hat die Verkäuferin so komisch geguckt, dass ich Schiss bekommen habe. Noch mal bin ich nicht hin. Durch die Vaseline wird die Wärme in unserem Körper bleiben. Unter dem Neoprenanzug kann man nicht viel anziehen, er ist so eng. Ich habe meinen Badeanzug, ein kurzes Shirt und eine Damenstrumpfhose an. Sie hat schon Laufmaschen, daher wird Mutti nicht sauer sein, dass ich sie einfach aus ihrem Schrank genommen habe.
Was Ulrich wohl sagen würde, wenn er mich jetzt sehen könnte? Hoffentlich hat er uns nicht verraten.
Die leeren Vaselinetuben sind nun mit unseren Taschen und unseren Klamotten vergraben. Irgendwann wird sie jemand finden und Alarm auslösen, aber nicht heute Nacht. Und morgen um diese Zeit sind wir vielleicht schon auf Fehmarn.
Die Suchscheinwerfer streifen uns immer wieder und tauchen den Strand in helles Licht. Zwischendurch ist es dunkel, auch der Mond ist nicht mehr zu sehen.
Andreas raschelt neben mir. Ein letztes Mal kontrolliert er, ob alles gut verpackt ist. Er hat eine Tasche dabei, die er an seinem Körper befestigt. Vier Tafeln Blockschokolade, Sachsen-Jensi wäre sicher neidisch. Mit dem Röhrchen Schmerztabletten könnte er weniger anfangen, auch das wasserfeste Klebeband würde ihn nicht interessieren. Und er würde niemals darauf kommen, wofür wir die Nylonschnur brauchen.
»Wickle die Tüte fester um die Schokolade und das Klebeband«, sage ich leise. Das Salzwasser darf nicht eindringen, sonst geht alles kaputt.
»Ja, klar«, murmelt Andreas und zieht den Reißverschluss der Tasche zu. Er tastet über die Halsmanschette und über die schwarze Kapuze seines Neoprenanzugs, unter der seine blonden Locken verschwunden sind. Er bindet sich den Bleigürtel um. Die Taucherbrille hängt um seinen Hals, Schnorchel und Flossen hat er in der Hand. Er wirkt unheimlich, düster und entschlossen, wie aus einem James-Bond-Film.
Abgesehen von meiner dunkelblauen Badekappe, die ich mir nun überstreife, sehe ich kaum anders aus. An meinem Neoprenanzug gibt es keine Kapuze, deswegen brauche ich eine Kappe. Sie reduziert den Wasserwiderstand und schützt vor Kälte. Den Anzug habe ich mir von Frank geborgt. Er hat mir auch seinen Kompass geliehen, den ich mir an mein linkes Handgelenk gebunden habe.
»Pass auf, dass deine Ohren richtig bedeckt sind«, sage ich leise.
Andreas weiß das, aber es schadet nicht, es noch mal zu sagen. Wasser in den Ohren kann schlimme Folgen haben. »Und deine Stirn muss bis zur Brille bedeckt sein, sie ist sehr kälteempfindlich.«
Ich streife mir die schwarzen Handschuhe über. Meine Hände müssen beim Schwimmen dunkel und unauffällig sein. Dann greife ich nach Schnorchel und Flossen. Wir werden sie erst im Wasser anziehen, über unsere Socken. Die Socken sollen laut Ulrich gegen das Scheuern helfen. Und die schwarzen Handschuhe sollen verhindern, dass meine Hände im Wasser gesehen werden.
Das grelle Scheinwerferlicht wandert über den Strand, wir warten darauf, dass es endlich ausgeschaltet wird.
»Hoffentlich hat dein Opa recht«, flüstert Andreas. Unter meiner Badekappe höre ich kaum, was er sagt.
Opa hat mir geholfen, die richtige Stelle zu finden. Er hat sich überhaupt nichts dabei gedacht, als ich ihn fragte, von wo aus er über die Ostsee flüchten würde, wenn er es noch könnte. Für ihn sind solche Themen völlig normal, er freute sich richtig über die Frage und erzählte vom Sandstrand, der nicht zu breit und nicht zu schmal sein darf, vom dichten Gestrüpp an der Küste und von Findlingen am Wasser. Wir sind mit dem Bus nach Kühlungsborn gefahren und an den Strand gegangen, Opa lief zwischen den Urlaubern umher, fuchtelte mit dem Stock und rief: »Genau richtig hier! Und bloß nicht weiter nach Westen gehen, an der Bukspitze ist überall NVA!«
Was würde Opa sagen, wenn er jetzt hier wäre? Würde er mich bestärken? Hätte er noch mehr Tipps für mich?
Ich schaue dem wandernden Licht nach und sehe Opa unten am Strand mit seinem Stock herumlaufen. Das war vor weniger als sechs Wochen.
Schlagartig ist schwarze Nacht um uns, das Scheinwerferlicht verschwunden. Jetzt ist es so weit. Unsere Chance.
»Opa hatte recht«, sage ich leise.
Andreas räuspert sich. »Woher wusste er das?«
Von Genosse Johnson, Offizier der Grenzbrigade Küste. Mit ihm kegelt Opa einmal im Monat, füllt ihn mit Goldbrand ab und horcht ihn über die seeseitige Grenzsicherung aus. Wir haben die Informationen sozusagen aus erster Hand, falls Opa nichts hinzugesponnen hat. Was allerdings wahrscheinlich ist, er spinnt leider oft.
»Hanna.« Andreas berührt mich am Unterarm. Er will starten.
Ich hocke mich sprungbereit in den Sand, Andreas ist direkt neben mir.
»Denk dran, nicht mit den Armen kraulen«, sage ich. »Leichter Kraulbeinschlag und Brustschwimmzug.«
Wir dürfen nicht auffallen, das bedeutet auch, dass wir beim Schwimmen im Grenzbereich so wenige Geräusche wie möglich machen.
Hoffentlich kommt Andreas mit dem stärkeren Auftrieb klar. Es ist das erste Mal, dass er mit einem Neoprenanzug schwimmt, seine Westverwandten konnten ihn und den Bleigürtel erst vor zwei Wochen über die Grenze schmuggeln.
Meinen Bleigürtel habe ich von Ulrich bekommen.
Eine Amsel singt oben in den Bäumen. Hell dringt ihr Ruf durch die Dunkelheit und begleitet das Blätterrauschen, manchmal überschlägt sich ihre Stimme, wird laut und wieder leiser. Auch morgen wird sie hier singen.
Ich schaue zum Wasser, sehe die samtige Schwärze sich kräuselnder Wellen, höre die leise Brandung.
»Jetzt«, flüstert Andreas.
Ich laufe auf Socken durch den Sand. Oben an den Dünen sinke ich knöcheltief ein und falle fast hin, Andreas ist dicht hinter mir, berührt mich aus Versehen. Er bleibt auch irgendwo hängen, muss sich mit den Händen abstoßen. Während ich renne, fliegt mir Sand in die Augen.
Endlich sind wir hinter dem Findling. Wir bewegen uns nicht, lauschen in die Nacht und atmen schwer. Ich spüre den Rand einer Muschel unter dem Knie, rieche Seetang. Hier unten weht der Wind stärker, auch die Geräusche haben sich verändert, ein Rauschen umgibt uns, obwohl kaum Wellengang ist.
Ich