Anna war vollständig überfordert: Osten, Westen, DDR, Gewalt, Mauerbau, Flucht, Todesangst, Heidrun, noch ein Kind, Scheidung, Unrecht, alles Worte, die in ihrer Kinderseele Schmerz hervorriefen. Sie verstand nichts, sah die Tränenflut der Frau, der Mutter, die Menge an hastig gerauchten Zigaretten und die immer wieder angebotenen Schnäpse.
Irgendwann stand Frau Rose auf, bedankte sich für das Zuhören, sagte, dass sie jetzt schlafen müsse und schleppte sich ins Zimmer nebenan. Anna blieb allein zurück. Die anderen hatten sich längst davongeschlichen. Bestürzt, aber leise, verließ Anna den Raum. Das gerade Erlebte wollte sie nicht stören. Tiefes Mitgefühl überfiel sie. Sie nahm es mit, ebenso den Zorn und die Wut über ein Land, das in sich gespalten schien, Familien zerstörte, unsagbares Leid hervorrief.
Anna war gerade zwölf Jahre alt, als sie zum ersten Mal von einem geteilten Deutschland hörte, und sie erfuhr soeben, was eine durch Gewalt bewirkte Trennung auslösen konnte.
Am nächsten Tag erlebte Anna, wie eine Frau nicht die Frau ist, die sie wirklich war, als sich beide im Treppenhaus begegneten. Frau Rose war wieder Frau Ilona Rose, hübsch gekleidet und geschminkt, die Haare flott frisiert, ein Lächeln im Gesicht mit der stets wiederkehrenden Frage: »Wo ist deine Schwester? Ich höre sie so gerne lachen.«
Gedichte
Bernd Ernting
Ein Grenzfall
Wir sind das Volk! ruft das Volk laut
Dass es Mielke im Innersten graut
Die Prager Botschaft schon übervoll
Hegt das Politbüro nun großen Groll
Honecker, erster Staatsrat ist ratlos
Er tritt zurück und schaut tatlos
Zu, wie Krenz die Grenze fallen lässt
Hat Angst, dass er verurteilt zu Arrest
Landet doch mancher Mauerwerker
Zuvor auch schnell in diesem Kerker
Wenn er ein Loch im Steine ließ
Das ihm den Weg nach draußen wies
Die »SEDDR« in sich zusammenfällt
Die Grenzen offen - in die weite Welt
Die Menschen weinen, lachen, lallen
Sich überglücklich in die Arme fallen
»Flüchtende« gab es dann noch viele
Honecker selbst flüchtete nach Chile
Wusst er denn nicht - der arme Tropf
Die dickste Mauer war in seinem Kopf
Der Mauerstachel
Wir sind das Volk…
Honecker
Überschlauer Mauerbauer
Keift
Verrat am Stacheldraht
Doch
Was die Menschen
Erhoffen
Wie lange schon…
Grenzen
Gibt es nicht mehr
Offen
Ist die DDR
Schabowski
Liest keinen Schabernack
Übernacht
Wurd quasi Staat und Stasi
Abgeschafft
Wir sind ein Volk.
Ich und der Kohl können nix dafür…
Was kann der Kohl denn schon dafür
Dass wir ein Volk sind
Was kann der Kohl denn schon dafür
Dass der »Osten« blüht…
Die Leute tun, als wäre Kohl ein Held
Dabei tat er das, mit unser aller Geld
Die Ostverträge hatte Brandt gemacht
Die Perestroika ist von Gorbatschow
Die Große Freiheit kam, hurra, juchhei
Vom Leipz’ger Volk* und Kirche Nikolei
Was kann der Kohl denn schon dafür
Dass wir so schön sind…
Was kann der Kohl denn schon dafür
Dass wir ein Volk sind
Was können Wessis schon dafür
Dass »es« elegant gelang
Die Ossis haben das allein gewendet
Ein wenig haben wir dafür gespendet
Die Volksarmee wollte nicht schießen
Auch die Russen hatten keine Lust
So kam die Freiheit - welch ein Glück
Nach Sozialismus-Urlaub gern zurück
Was kann der Kohl denn schon dafür
Dass wir so schön sind…
*Stellvertretend genannt für Alle.
Eine Hauptstadt mit »B«
Cornelia Theda
Wir hatten das Jahr 1978 und ich war ein junges Ding, gerade mal 20 Jahre alt. Endlich hatte ich ein eigenes Auto, einen uralten VW Käfer. Damit wollten meine Schwester und ich gemeinsam auf große Reise gehen. Und das erste und beste Ziel, das uns einfiel, war West-Berlin. Denn dort lebte ein Großteil unserer Familie: Tanten, Onkel, Cousins etc.
Es war schon eine Strecke vom Ruhrgebiet, die wir zu bewältigen hatten, aber wir fühlten uns sehr erwachsen. Mit unserer »Lebenserfahrung« und diesem tollen Auto stand uns quasi die Welt offen – aber nicht die DDR. Egal, Berlin war für uns der Inbegriff des Lebens – groß, wild, gefährlich, bedrückend, befreiend – es war also klar, dass kein anderes Ziel in Frage kam.
Am Grenzübergang Marienborn ordnete ich mich, ganz die Erwachsene, die ich ja nun laut Führerschein war, in die Spur Richtung »Berlin« ein.
Mit der Beschilderung »Transitstrecke« konnte ich jedoch überhaupt nichts anfangen. Das klang für mich nach »Transsibirien« oder »Transsylvanien«, auf jeden Fall sehr, sehr suspekt. Denn ich wollte ja nach Berlin, und so stand es auch auf den Hinweisschildern geschrieben.
Als ich dann endlich an den Kontrollschalter heran rollen durfte, stürzte ein VoPo auf unser Käferchen zu, wie immer, mit geschulterter MP, tief in die Stirn gezogener Mütze und äußerst finsterem Blick. Meine Schwester und ich zitterten vor Angst. Wir wussten ja, dass es immer so war. Man kam sich wie ein Verbrecher vor, aber ohne elterlichen Schutz war die Situation schon bedrohlich.
Der VoPo schnauzte mich in diesem typisch humorlos-militärischen Ton an, der wahrscheinlich für diese Berufsgruppe erfunden worden war. Vielleicht gab es sogar Sprachkurse, um die hohe Kunst dieses arroganten,