Abgelaufen. Eva Karnofsky. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Eva Karnofsky
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742749161
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Häuser sind inzwischen niedriger geworden, und kaum eines ist fertiggestellt: Dem einen fehlt der Anstrich, dem nächsten der Putz oder die zweite Etage befindet sich im Rohbau. Wie überall in Lateinamerika bauen auch hier die Leute ihre Häuser Stein um Stein, manchmal über Jahre hinweg, weil die Kreditzinsen unerschwinglich sind und sie warten müssen, bis sie wieder Geld haben für die nächste Tür, das nächste Fenster. Und ästhetische Perfektion kann man sich auch nicht leisten.

      »Der graue Komplex da hinten ist das Gefängnis. Siehst du die lange Schlange an der Mauer? Heute ist Besuchstag für Frauen, immer mittwochs und sonntags, glaube ich.«

      »Und da warst du drin?«, will er wissen.

      Sie nickt. »Einen Tag lang, es war furchtbar. Da laufen die Ratten in den Zellen rum. Kann ich dir nachher ausführlich erzählen, denn ich glaube, wir sind da. Die Imbissstube muss das Haus von Henry Salinas sein. Hoffentlich ist sie geöffnet, schließlich ist Sonntag.«

      »Scheint kein besonders erfolgreicher Mann zu sein, dieser Salinas. Der Laden sieht heruntergekommen aus«, meint Roberto, als er den Wagen parkt. Sie steigen aus und schauen durch die Glasscheibe in der Tür, doch es ist niemand zu sehen. Roberto drückt die Klinke herunter, es ist offen.

      »Ist hier jemand?«, ruft er, und Rosa-Li schaut sich um. Nackter Betonboden, schon etwas ausgetreten, und an der Wand stehen ein paar billige Holztische mit einfachen Stühlen. Die gelb getünchten Wände könnten einen neuen Anstrich vertragen. Doch es ist sauber. Und die Anticuchos auf der Theke sehen appetitlich aus. Hinter einem bunten Fliegenvorhang aus Plastikstreifen scheint die Wohnung der Familie zu liegen.

      Roberto ruft erneut, und eine kleine, ältere Frau mit indianischen Zügen kommt angelaufen, sie trocknet sich mit einem Handtuch die Hände ab. »Ich habe gerade gespült«, entschuldigt sie sich und mustert die beiden von oben bis unten, denn nur selten verirren sich Fremde in diesen Teil der Stadt. Es sei denn, sie wollen Angehörige im Gefängnis besuchen. Aber die Familien der Inhaftierten tragen gewöhnlich keine Lederjacken aus feinem Handschuhleder, wie Roberto sie liebt.

      »Was darf es denn sein? Die Anticuchos sind ganz frisch, und ich habe gerade Ceviche gemacht.«

      Roberto überhört die Frage, stellt sich vor und fragt nach Henry Salinas.

      Ihr zerfurchtes Gesicht verfinstert sich. »Mein Sohn ist nicht da.«

      »Und wo können wir ihn erreichen?«, schaltet sich Rosa-Li ein.

      Die Frau seufzt. »Wenn ich das nur wüsste. Er ist seit drei Tagen nicht mehr heimgekommen. Worum geht es denn? Ist es beruflich?«. Ihr ist die Sorge um den Sohn anzusehen.

      Roberto nickt. »Gewissermaßen. Ihr Sohn wollte uns Informationen zukommen lassen.«

      »Informationen? Mein Sohn? Und wozu?«, will die Frau wissen.

      »Er wollte einer Kollegin von uns von einem Skandal erzählen. Sie ist nun... verhindert, und wir arbeiten weiter an ihrer Geschichte. Es geht um Korruption in der Regierung. Es wäre sehr wichtig für uns, mit ihm zu sprechen.«

      Wie gut er blufft! Rosa-Li schaut auf den Boden, um nicht zu lachen. Roberto setzt noch nach: »Wir sind uns nicht sicher, aber es könnte sein, dass Ihr Sohn in Gefahr ist. Unsere Kollegin wurde nämlich ermordet, nachdem sie mit ihm gesprochen hat. Und wir vermuten, dass man sie zum Schweigen bringen wollte. Wir würden ihn gern warnen, damit ihm nicht auch etwas passiert.«

      Ganz schön skrupellos, der Kollege Pavón. Versetzt die arme Frau in Angst und Schrecken, nur, damit sie redet. Die Frau stützt sich schwer auf ihre Theke, und ihr steht das Entsetzen im Gesicht. »Um Himmels willen! Das ist ja furchtbar!«, ruft sie aus. Dann richtet sie sich mühsam auf, geht zu der Tür, aus der sie gekommen war, und teilt den Fliegenvorhang mit der Linken. »Kommen Sie doch mit nach hinten, da lässt es sich ruhiger reden.«

      Sie treten in eine kleine Wohnstube, die von zwei knallrot geblümten Plüschsesseln und einem Fernseher beherrscht wird. In einem Wandregal drängt sich Nippes, Porzellantänzerinnen auf einem Bein in Rosa, eine Barbiepuppe in einer Tracht des Andenhochlandes und ein großes Foto in einem breiten Goldrahmen, den Plastikblumen zieren. Das Bild zeigt einen jungen Mann mit ernsten Augen und von Gel glänzendem, schwarzen Haar. Das muss ihr Sohn Henry sein.

      Frau Salinas bittet die beiden, in den Sesseln Platz zu nehmen, und will sich einen der Holzstühle aus dem Gastraum holen, doch Roberto, ganz Kavalier, springt wieder auf und erledigt das für sie. Rosa-Li versinkt fast in dem Plüschmonster.

      »Hat Ihr Sohn Ihnen nicht gesagt, wo er hingefahren ist?«, hebt Roberto von Neuem an. Die Frau schaut ihn an. »Wie soll ich denn wissen, ob ich Ihnen trauen kann?«, fragt sie.

      »Haben Sie schon mal Los amigos de Roberto gesehen?«, fragt Rosa-Li, »das Programm aus Kolumbien?«.

      Da hellt sich Frau Salinas´ Gesicht auf, und sie strahlt Roberto an. »Sie kamen mir doch gleich so bekannt vor. Natürlich! Sie sind Roberto! Ja, das ist aber eine Überraschung! Dass ich Sie nicht sofort erkannt habe! Aber wer kann denn damit rechnen? Da wird sich mein Henry aber freuen.« Sogleich wird sie wieder ernst. »Also, er ist am Freitag nach Cusco gefahren, er wollte sich dort gestern mit jemandem treffen. Es ging um Geld. Mama, wenn ich zurück bin, kann ich dir endlich den neuen Gasherd kaufen, hat er gesagt. Aber bis jetzt ist er nicht wieder aufgetaucht. Nicht einmal angerufen hat er mich. Das ist sonst gar nicht seine Art. Und sein Handy ist auch ausgeschaltet. Er ist mein einziges Kind, und er weiß, dass ich mir immer Sorgen um ihn mache.« Sie schaut Roberto bekümmert an. »Ihm muss etwas passiert sein, sonst hätte er sich längst gemeldet.«

      »Wenn er sich verstecken wollte: Haben Sie eine Idee, wo er hingehen würde?«, fragt Rosa-Li.

      Sie nickt. »Nach Satipo. Da wohnt Elena, Elena Cruz, seine Freundin. Sie ist Krankenschwester, wissen Sie, und hat dort eine gut bezahlte Stelle gefunden. Er fährt häufig dorthin. Immer, wenn seine Arbeit es zulässt.«

      »Satipo? Wo liegt denn das?«. Roberto schaut Rosa-Li fragend an, doch auch sie zuckt die Schultern.

      »So genau weiß ich es auch nicht, aber es ist sehr weit. Er ist immer etliche Stunden mit dem Bus unterwegs. Man muss die Kordilleren überqueren. Und es ist sehr warm dort, das hat Henry mir erzählt«, erklärt seine Mutter.

      »Was macht Ihr Sohn eigentlich beruflich?«, will Roberto wissen. Frau Salinas steht auf, holt aus der angrenzenden Küche ein kleines Transistorradio und schaltet es ein. »Ich höre ihn immer«, sagt sie stolz. »Radio Reloj heißt der Sender. Er geht immer zur Regierung, spricht dort mit wichtigen Leuten und erzählt im Radio, was sie ihm gesagt haben.«

      Er ist also auch Journalist. Umso interessanter wäre es, mit ihm zu sprechen, denn womöglich ist er an der gleichen Geschichte dran wie die Tote, jubelt es in Rosa-Li.

      Die Frau erhebt sich erneut und reicht Roberto einen Zettel. »Hier hat er mir die Telefonnummer aufgeschrieben. Ich habe da heute früh schon angerufen, aber sie wissen auch nicht, wo er ist. Ich habe sogar schon dran gedacht, bei der Polizei nach meinem Sohn zu fragen, doch Henry sagt immer, sie tauge nichts.«

      »Da könnte er Recht haben. Am besten ist, Sie warten noch damit. Sobald wir etwas wissen, sagen wir Ihnen Bescheid«, verspricht Roberto der besorgten Mutter und rät ihr, zunächst mit niemandem über Henrys Verschwinden zu sprechen. Und wenn jemand nach ihm fragt, soll sie unter keinen Umständen erwähnen, dass er in Satipo sein könnte.

      Sie plaudern noch ein wenig, und Frau Salinas lässt sie erst ziehen, nachdem sie ihre Antichuchos probiert haben. Nur mit Mühe bringen sie sie davon ab, ihnen auch noch ein paar von den Rinderherzspießen einzupacken.

      »Auf nach Satipo«, schlägt Rosa-Li vor, als sie wieder im Wagen sitzen.

      »Ich glaube, vorher sollten wir uns noch ein wenig um die peruanische Medienlandschaft kümmern. Was hältst du davon, wenn wir mal bei Radio Reloj vorbeischauen? Es ist zwar Sonntag, aber vielleicht haben wir doch Glück. Journalisten arbeiten ja auch am Wochenende. Und mit Alejandras Chef in der Nación würde ich mich auch gern unterhalten. Vielleicht bringt uns das weiter.«