„Ich denke, also bin ich!“ Ein fragender Blick nach oben. „Ich denke, dass ich bin!“, ergänzte sie. „Mann, ist das hier langweilig!“, setzte sie fort. Genaueres Schauen, Herbie streckte sich, rollte sich aus bis zur Mitte, die noch einen kleinen verschlungenen Kreis bildete, hob den Kopf. Die Schlange züngelte. „Mir ist langweilig!“, ertönte es ungefragt von oben. Der Tod blinzelte: „Was bist du für ein Früchtchen?“
„Was heißt da, was bist du für ein Früchtchen, was bist du für ein Früchtchen, kannst du nicht normal reden, Alter? Früchtchen! Ich bin die Frucht! Ich bin der Mittelpunkt. Und mir ist langweilig. Den ganzen Tag häng´ ich hier schon rum, keiner spricht mit mir, alle ignorieren mich, meine Kumpels sind einschläfernd, da kommt ihr beiden ja wie gerufen, oder? Kommt, lasst uns einen drauf machen!“
„Auf wen will er drauf machen?“, zischte Herbie.
„Ich habe keine Ahnung“, antwortete der Tod.
„He, Jungs, holt mich herunter!“
„Warum sollten wir dich herunterholen?“, fragte Herbie.
„Na kommt, seid nicht so, es ist so langweilig hier oben.“
Und während ihres Gesprächs, während sich Herbie und der Tod noch fragten, was es denn mit diesem „Draufmachen“ auf sich habe, geschah es. Ganz ohne Vorankündigung, ohne Warnung, nichts! Irgendwers Experiment musste geklappt haben. Der Tod veränderte sich. Zuerst nur langsam, so, als müsste ein kleines Kind erst mühsam etwas erlernen, einen Handgriff, die Bewegung eines einzelnen Fingers, dann ein Lächeln, schließlich das Fassen eines Gedankens, etwas sich gedanklich begreiflich machen, etwas erkennen. Der Tod sank nieder, er kniete, er flirrte, er schimmerte, ja, er waberte sogar, bis er Gestalt angenommen hatte. Eine neue, andere, vollkommen fremde Gestalt, aufgrund derer jeder wusste und wissen würde, was es mit dem Leben des Menschen auf sich hatte. Und mit seinem Sterben. Was es hieß, zu leben, welch kostbares Gut es war, das Leben: Stunden, die verrinnen würden zwischen den Fingerknochen, seinen Fingerknochen, versickern in der Unendlichkeit, hinabwirbeln in den Abfluss der vergeudeten Zeit. Was es hieß zu leben und dass das Leben untrennbar mit dem Sterben verbunden war. Es war vorbei. Der Tod richtete sich auf.
Herbie schluckte. Die Äpfel schwiegen. Wie zumeist. Doch auch dem einen hatte es die Sprache verschlagen. Der Tod stand ruhig da, fast gelassen, er kehrte der Schlange und dem Baum den Rücken zu. Dann drehte er sich um. „Du siehst - gut aus“, kam es stockend von Herbie.
„Ja, Mann, echt Wahnsinn!“, hörte man von oben. Irgendwers Experiment hatte also geklappt. Da stand ein zwei Meter großes Skelett, nur die erste von vielen Gestalten, die der Tod im Laufe der Zeit noch annehmen sollte. „Mit den dunklen Locken hast du mir besser gefallen“, meinte Herbie. Der Tod ging zum nahen Teich, um sich im Wasser zu betrachten. Was er dort sah, nahm er zur Kenntnis, es erfreute ihn nicht unbedingt, doch akzeptierte er es mit einer bestimmten Gelassenheit, die nur ihm zu eigen war. Der Mensch war erschaffen. Und mit ihm sein Tod. Niemand hatte eine Wahl.
„Ein wenig kahl vielleicht“, gab er Herbie Recht, als er sich wieder ihm beigesellt hatte. Der Tod nahm Platz, es knackte und knirschte, schließlich saß er bequem. Ein wenig würde er noch üben müssen, bis er beim Gehen und Niedersetzen nicht mehr klapperte, aber insgesamt käme er mit seiner Gestalt sicher klar. Dessen war er sich gewiss. Herbie und der Tod schwiegen. Der Tod wusste, und Herbie fühlte, dass sich die ruhigen Tage, die später vielleicht sogar glückliche Tage gewesen sein würden, dem Ende zuneigten. Beide nebeneinander hing ein jeder seinen eigenen Gedanken nach.
„Gut, Jungs, die Show ist vorbei, jetzt passt wieder alles, los, unternehmen wir etwas“, störte von oben ein kleiner, penetranter Apfel. Niemand reagierte. „Jungs, was ist mit euch? Kommt, da draußen ist sicher die Hölle los, nehmt mich runter, wir könnten eine Menge Spaß haben, gemeinsam könnten wir die Welt erobern!“ Die anderen Äpfel blickten betreten, wandten ihre Bäckchen ab von diesem, der anders sein wollte. „Ju-ungs!“. Der Tod schwieg. Die Schlange rekelte sich, dann sprach sie: „Warum möchtest du unbedingt herunter? Glaubst du, hier ist es anders als bei dir da oben? Besser? Schau in die Landschaft! Was siehst du? Mehr als wir. Der Tod neben mir, der weiß, der braucht nichts zu sehen, um zu wissen. Aber ich, ich bin hier unten, sehe, und weiß nichts, da ich nicht genug sehe. Doch du bist da oben, du siehst mehr als ich. Also bleib und sei glücklich. Es wird nicht besser werden.“
„Es kann nur noch besser werden. Wer nichts wagt, gewinnt nichts. Was habe ich davon, wenn ich sehe? Was habe ich davon, wenn ich Verschiedenes weiß, aber mit diesem Wissen nichts anfangen kann? Weil ich auf einem bescheuerten Baum festsitze? Oder hänge.“
„Was möchtest du gewinnen? Du hast bereits alles. Alles, was wichtig ist für dich. Du hast Luft, du hast Licht. Was möchtest du mehr, was möchtest du mehr wissen, was mit diesem Wissen anfangen? Du bist ein Apfel!“
„Ich möchte schauen. Ich möchte sehen. Ich möchte leben. Ich möchte erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Im Anfang ist die Tat. Ich möchte tun. Die Tat, dann das Reden. Nach dem Tun kann man reden. Weil man etwas zu reden hat! Also holt mich herunter.“
„Nein, wir holen dich nicht herunter, du bleibst oben. Was machen wir mit dir hier herunten?“
„Lass ihn, er wird schon aufhören“, sprach der Tod.
„Holt mich herunter!“, rief der Apfel. Niemand reagierte mehr. Stille kehrte ein. Dieser Zustand erschien dem Tod im Augenblick als der vernünftigste.
„Ich halte die Luft an“, meckerte der Apfel. Niemanden interessierte es. Herbie schlug die Vorderbeine übereinander und legte seinen Kopf darauf. Der Tod schloss die Augen. Diese Ruhe. Er war´s zufrieden. Und während er sich gerade zu einem kleinen Nickerchen entschloss – nicht, dass er Schlaf brauchte, aber es war angenehm -, ertönte irgendwo, nicht allzu weit entfernt, ein Pfeifen. Herbie hob den Kopf. Er lauschte. Er hörte nicht so wirklich gut, umso mehr konzentrierte er sich. Er klopfte an den Unterarm seines Freundes. „Augenblick, verweile doch, du bist so schön“, dachte der Tod, und wusste, dass die schönen Augenblicke in diesem einen bestimmten Augenblick endgültig vorbei waren. „Der Wind pfeift eigenartig!“, meinte Herbie.
„Der Wind pfeift nicht. Das ist jemand anderer“, seufzte der Tod. Es war auch nicht der Apfel, der noch immer über ihnen hing, und in diesem Augenblick die Luft aus seinen geblähten Backen entweichen ließ. Nein, es handelte sich eindeutig um ein menschliches Pfeifen.
„Wirklich gutes Wetter heute, das muss Adam schon sagen. Und so ein schöner Garten. So groß. Und Adam darf darauf aufpassen. Adam, ganz allein. Adam ist ja schon ein Großer, hat Er gemeint. Das hat Adam aber gefreut. Adam ist schon ein Großer. Was ist denn das dort? Ah, ja, das muss er sein, der Baum, von dem Er gesprochen hat. Der hat aber schöne Früchte, so saftig. Muss Adam gut aufpassen, dass da niemand naschen tut!“ Herbie kroch auf allen Vieren hinter den Stamm, Tod blieb sitzen, so, wie er vor dem Auftauchen des eigenartigen Wesens gesessen war, nur ein wenig unsichtbarer, zumindest für den Neuankömmling, und der Apfel hing immer noch herum. Herbie flüsterte: „Das also ist der Grund deiner Verwandlung. Ein komisch plapperndes Etwas. Lange wird sich diese Schöpfung wohl nicht halten, so naiv wie die ist.“
„Du weißt, Irgendwer hat ziemlich viel Zeit darauf verwendet, etwas ganz Besonderes zu schaffen.“