Jakob der Träumer. Markus Sturm. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Markus Sturm
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847649458
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Teilnahme schien ihm fremd, im direkten Kontakt mit dem Wesentlichen suchte er zumeist die Distanz, und hier fand er jemandes Teilnahme an seinem Selbstgespräch. Irgendwie unpassend. Wer unterhielt sich schon mit dem Tod, suchte ein richtiges Gespräch? Zwar wusste er um die Blicke seiner Kunden, wenn er sie abholte. Früher, ganz früher, waren die bei seinem Anblick meist teilnahmslos gewesen, ließen geschehen, was geschehen sollte, hatten noch nichts realisiert, oder waren manchmal erfreut, dass alles ein Ende gefunden hatte; fragten, ein, zwei Dinge - unvermeidlich: wie? Was nun? Er war nur für das Wesentliche zuständig. Doch hier suchte jemand Unterhaltung. Echte Teilnahme, jemand suchte Unterhaltung. Dies war ihm selten passiert. Eigentlich noch nie, zumindest seit sehr langer Zeit nicht mehr. Der Tod fühlte leichte Verunsicherung. Er war verblüfft. Er fragte sich schon längere Zeit, eigentlich die ganze Zeit, warum Menschen so waren, wie sie waren, und hatte noch keine Antwort auf diese Frage gefunden. Was steuerte sie? Was trieb sie vorwärts? Irgendwer sicherlich nicht mehr, der kümmerte sich scheinbar nur noch um die Bedeutenden, warum auch immer sie bedeutend waren. Wie funktionierten sie? Warum nahmen sie etwa teil? Warum Anteil? Wie konnten sie das Leben ertragen, wo sie doch damit rechnen durften, jederzeit gehen zu müssen? Und warum fanden sie auch in schrecklichen Situationen ein Lachen? Warum unterhielt er sich überhaupt? Es verkomplizierte nur alles. Er war nur irgendeine Gestalt an einer Bar, nicht besonders interessant, bis auf die Tatsache, dass er den neben sich abholen sollte, sozusagen Taxiunternehmer, und trotzdem ließ es der andere nicht einfach geschehen, sondern suchte Unterhaltung. Lehnte er in seiner ursprünglichen, seiner ersten Gestalt an der Bar, die, die er am Anfang bekommen hatte, und schimpfte dort über Irgendwer, hätte er Interesse verstanden. Vielleicht nicht Teilnahme, möglicherweise Anteilnahme, weil er so dürr war, doch keine Teilnahme. Er hätte eher abschreckend, ein wenig wie ein Gerippe gewirkt, hätte schrecklich erinnert an etwas Endgültiges. Aber so? In seiner jetzigen Gestalt? Anzug, natürlich schwarz. Schlank, unauffällig. Auffallen mochte er nicht so gerne beim Warten, fiel am Ende, wenn es wirklich soweit war, oft genug auf. Er konnte nie anders, konnte sich eigentlich letztlich nie im Hintergrund halten, er musste auffallen, war der Letzte, musste gesehen werden. Er war froh über diese Gestalt: schwarzer Anzug, passend zur Wandfarbe des Lokals und seiner restlichen Umgebung, eher damit verschmelzend. So ähnlich wie diese Tiere, diese Echsen. Und dennoch, es nahm jemand teil, suchte Unterhaltung, warum? Er sollte nur eine Aufgabe erledigen. Er war nicht interessant. Zumindest nicht so, dass man prinzipiell davon ausgehen konnte, dass jemand mehr über ihn wissen wollte. Andere waren in diesen besonderen Augenblicken der Entwesentlichung mehr mit sich selbst und der unmittelbaren Zukunft beschäftigt gewesen.

      „Und nein, ich habe kein „Zuhause“ in dem Sinn, wie Sie es verstehen. Ich denke, ich hatte einmal eines. Aber dies ist schon lange her. Irgendwann musste ich dort raus. Die Sache ist, vereinfacht gesagt, die: Ich bin nur, wenn Sie sind, und ich bin nur, weil Sie sind.“

      „Das klingt philosophisch.“

      Dem Tod fehlten die Worte, um zu erklären, was er genau meinte. Kommunikation war schwierig. Menschen konnten ständig üben, er nicht. Und wie machte man jemandem das Unbegreifliche begreifbar? Wenn er nur war, weil der andere war, weil der andere Mensch, ein Lebewesen, war, was wäre gewesen, wenn es den anderen nicht gegeben hätte? Hätte der Tod dann nicht existiert? Nein, so einfach war es nicht. Bereits vor dem Menschen hatte es ihn gegeben. Nur war er eben nicht des Menschen Tod gewesen. Früher lagen die Dinge für die Menschen einfacher. Da hatte er eigentlich, wenn er so darüber nachsann, nie philosophieren müssen. Früher war alles klar gewesen: der Bettler in den Himmel, der Kaufmann etwas tiefer, der Edelmann war vielleicht nicht so edel gewesen, und wenn doch, dann eben nach oben. Die Menschen glaubten. Sie stellten keine Fragen. Was wirklich sein würde, nun, wer außer ihm wusste die Antwort? Irgendwer und seine Anderen, aber ansonsten? Und heute? Alle meinten, etwas Besonderes zu sein, und blieben doch nur Menschen in ihren letzten Augenblicken und Atemzügen. Und dennoch nannten sie die unmöglichsten Wünsche ihr Eigen. „Und was jetzt?“, war die harmlose Frage. Da gab es aber auch die, die meinten, sie hätten nun all-inclusive gebucht und er sei der Animateur. Oder die, die auf Jungfrauen warteten und in Wirklichkeit nur ein Bordell wollten. Für alle hatte er eine persönliche Gestalt. Obschon er sich, das wusste er, als Animateur wohler fühlte. Den Job als Jungfrau hatte er jemand anderem überlassen. Früher also Skelett, heute der moderne Mensch. Der moderne Mensch schuf sich seinen eigenen Fährmann, wählte eine Gestalt, machte das Sterben zur persönlichen Angelegenheit, zum persönlichen Tod, nahm es persönlich. Und er sah an seiner Gestalt, was das metaphorische Etwas gewesen war, wie es gelebt und was es geglaubt hatte. Er sah das Wesentliche. Manche dachten an Wiedergeburt, manche ans Paradies, manche an nichts Genaues, nur an ein helles Licht und einen Tunnel. Ihm war es egal, er kannte die Antwort auf die Frage, was folgte, aber es war nicht seine Aufgabe, sie zu geben. Ihm ging es nur um das Wesentliche. Das Skelett war für viele Gewohnheit, noch immer beliebt, wie ein alter Freund, aber bei weitem nicht mehr so wie früher. Da hatte es nur den Knochenmann gegeben. So nahm er heute also immer die Gestalt der jeweiligen Vorstellung an, des geheimen Wunsches vielleicht. Oder des geheimsten Albtraumes. Er war nicht nur für die Guten verantwortlich. Grundsätzlich konnte er jede Gestalt annehmen. Grundsätzlich musste er jede Gestalt annehmen. Er war in jener Nacht dankbar für den schwarzen Anzug.

      „Und, wie sieht es aus: Erleben Sie manchmal Widerstand oder folgen Ihnen immer alle freiwillig?“

      „Ja“, eine Antwort ohne Zögern.

      „Niemand, der sich drücken möchte? Der versucht, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen und zu entwischen?“

      „Man kann mir nicht entwischen. Ich bin endgültig.“

      „Ach, kommen Sie, jemand hat es sicher probiert. Da gibt es doch diese Geschichten mit dem Schachspiel. Ich glaube nicht, dass alle immer mitgehen. Was ist, wenn ich sage, ich verstünde Sie nicht? Ich sage einfach, ich verstehe Sie nicht. Was machen Sie dann?“

      „Ich beherrsche alle Sprachen. Ich habe sie gehört, als sie entstanden. Von Anbeginn an.“ Der Sensenmann, einer der apokalyptischen Reiter, was war er nicht alles bereits gewesen? Die letzte Instanz, Zerstörer von Welten, in so einem Fall schien Eitelkeit, wenn schon nicht angebracht, so zumindest verständlich, meinte er. Er sprach alle Sprachen. Irgendwie empfand er Stolz. Er sollte sich nicht unterhalten. Dies wurde plötzlich persönlich. Einfaches Warten hätte gereicht. Er hätte nicht den Mund aufmachen sollen. „Menschen sind schwierig“, murmelte er halblaut . Er überlegte, der andere wartete gespannt. Manchmal hatte er sich einen interessanten Gesprächspartner gewünscht, der nicht nur die beiden üblichen Fragen stellte, und dennoch keinen Animateur erwartete, nur um festzustellen, dass, wenn man schließlich nach einigen vielen Jahren und Aberjahren einen gefunden hatte, dies nur Probleme aufwarf. Doch in all den anderen Jahren war er nie auf jemanden getroffen, der mit ihm ein richtiges Gespräch geführt hätte. Alle wollten es entweder nur möglichst schnell hinter sich bringen, auch wenn es zu warten galt, oder während des Wartens unterhalten werden. Ab und weg oder Trallala. Er hätte dem da auch nicht die Chance zu sprechen geben und sich nicht selbst in Konversation versuchen sollen. Darin war er nicht so geübt. Menschen kommunizierten ständig, und dort, wo Kommunikation schiefging, fand sich manchmal sein Betätigungsfeld. Er hätte wissen müssen, dass ein Gespräch nicht so einfach war.

      „Was würde der Tod machen, wenn er eine zweite Chance hätte?“, fragte Frank gerade hartnäckig, um das Gespräch in Gang zu halten, „also, wenn er noch einmal von vorne beginnen könnte? Wenn er die Möglichkeit sähe, einen anderen Beruf zu wählen?“

      Der Tod grübelte. „Schwierig. Ich durfte nie wählen. Ich konnte nie wählen. Ich war einfach.“ Welche lächerliche Frage. Was wäre, wenn…? Damit hatte er sich nie beschäftigen müssen. „Aber wenn ich so darüber nachdenke – wahrscheinlich wäre ich wieder in irgendeiner Form - im Transportgewerbe.“

      „Transportgewerbe? Von dieser Seite habe ich - Ihre Tätigkeit noch nicht betrachtet.“ Er lächelte. „Sehen Sie sich denn als Spediteur?“

      „Eher Taxiunternehmen. Spediteur fände ich übertrieben“, meinte der Tod. Taxiunternehmer! Frank überlegte. Er hatte sich immer ein differenzierteres Bild gemacht vom Sterben – und damit auch vom Tod. Das mit dem Sterben hatte er irgendwie nicht so hinbekommen, wie er es gewollt hatte, das war anders gekommen,