Das möglicherweise berühmteste Gebäude der Kaiserstadt war das Diwan-i-Khas, das Juwelenhaus, in dem sich die große Audienzhalle Akbars befand. Eine einzige Säule mit wild wuchernden Ausläufern trug die Decke des Raumes, in dem Akbar Gelehrte der verschiedensten Religionen miteinander diskutieren ließ. Obwohl Akbar an bestimmten Formen des Islam festhielt, hatte sich der Großmogul spätestens in der Epoche von Fatepur Sikri längst vom strengen Islam gelöst und sich auch mit den anderen Gottesvorstellungen beschäftigt, die in seinem Reich geglaubt wurden. Wo einhundert Jahre später Akbars Urenkel Aurangazeb mit seiner religiösen Intoleranz die Totenglocke des Mogulreiches läuten sollte, hatte sich sein Urgroßvater sogar in der Kreation einer neuen Reichsreligion versucht. Din-e-Ilahi, „Religion Gottes“, nannte Akbar dieses philosophisch-theologisches System, das alle Gotteszugänge der großen Religionen als gleichberechtigt anerkannte und in dem versucht wurde, Islam und Hinduismus zu verbinden. Doch mit Din-e-Ilahi ging es Akbar genauso wie mit seiner Hauptstadt. Die neue Religion Gottes hatte keine Zukunft. Als reine Kopfgeburt konnte sie weder die Masse der Hindus noch der Moslems überzeugen. Mit Akbars Tod im Jahre 1605 verschwand sie auf Nimmerwiedersehen im Orkus der Geschichte – der Mogulhof war schon zwanzig Jahre vorher wieder nach Agra zurückgekehrt.
So lag etwas Wehmütiges über der verlassenen Stadt, eine Ahnung von Frieden und Toleranz, die an diesem Platz nicht hatte Wirklichkeit werden können. Die Sonne sank tiefer, die Schatten in den Höfen wurden länger, der rote Sandstein glühte, als würden sich die Fassaden der Paläste entzünden. Ich schloss die Augen und fantasierte Prinzessinnen und Generäle, Höflinge, Beamte und Diener auf einem imaginären Bühnenbild der Vergangenheit. Der Großmogul verfolgte von einer Sänfte aus das Treiben auf den weiten Plätzen, christliche Missionare aus Goa waren eingetroffen, um am Abend mit Sufis und Yogis im Diwan-i-Khas zu diskutieren. Da rüttelte mich ein Aufseher an den Schultern. Die Dämmerung war hereingebrochen, ich musste gehen.
Als ich am Abend ins Guesthouse zurückkam, herrschte dicke Luft auf der Terrasse. Eine Gruppe von Australiern hatte sich zerstritten, einige wollten nach Gwalior, andere endlich ans Meer, aber alle ärgerten sich über das Bier, das ihnen zu warm war. Zwei Frauen in den Dreißigern beschwerten sich über das Chicken Curry, das ihnen verbrannt vorkam. Eine von beiden war eine hagere Blondine mit scharf geschnittenen Gesichtszügen. Dazu trug sie eine Hornbrille, was ihr das groteske Aussehen einer Gouvernante auf Indienreise gab. Ihre Freundin war mollig und ein wenig eingefallen, sie stellte eine beleidigte Schnute zur Schau und überließ ihrer Freundin die Reklamation. Rajiv versuchte zu beschwichtigen und berührte dabei die Hagere vertraulich an der Schulter. Doch die Hagere schlug ihm blitzschnell die Hand von ihrer Schulter. „Keep your hands off und bring an new chicken“, zischte sie. Ich sah, wie Rajiv das Blut ins Gesicht schoss, und einen Augenblick dachte ich, er würde die Blonde auf der Stelle ohrfeigen, doch er ließ es und ging an die Kasse zurück.
Am nächsten Morgen waren die beiden Frauen verschwunden. Rajiv nahm auf der Dachterrasse missmutig die Bestellungen der Gäste entgegen und übersah die Flirtversuche der Schweizerin, die schon wieder wie ein Schlot rauchte. Wie ich von Pierre erfuhr, war „Mr. not for me“ aus dem Guesthouse geflogen, weil er die Rechnung nicht mehr bezahlen konnte.
Nach dem Frühstück ließ ich mich von einer Rikscha an das Ufer der Yamuna fahren. Wieder stauten sich Lastwagen, Limousinen und Gefährte aller Art vor der Brückenauffahrt, und zu allem Unglück war ein Karren umgestürzt, was den Verkehr ganz zum Erliegen brachte. Wirklich auf die Fortbewegung verlassen kann sich in lndien nur der Fußgänger, und so verließ ich die Rikscha und überquerte die Brücke, um die zweite bedeutende Sehenswürdigkeit Agras zu besuchen, das ltimald-ud-Daulat, das Grabmal eines persischen Wesirs, unter den Touristen nur als „Baby Taj“ bekannt, weil das Bauwerk nur wenige Jahre vor der Errichtung des Taj Mahal entstanden war.
Der Name des iranischen Wesirs, der im Itimad-ud-Daulat begraben lag, war Mirza Ghias Beg. Nach einer umstrittenen Überlieferung hatte er im Jahre 1578 als Flüchtling den Mogulhof in Fatepur Sikri erreicht und war dort schnell zu höchsten Positionen und schließlich zum Rang eines ersten Ministers aufgestiegen. „Itimad-ud-Daulat", Säule des Staates, nannte der alte Kaiser Akbar seinen Wesir, und Akbars Sohn und Nachfolger Jehangir erhob Ghias Begs Tochter Mehrunnissa sogar zur „Nur Jahan“, zum Licht der Welt, und zu seiner Hauptgemahlin. Kaiserin Nur Jahan, die in den späten Jahren des opiumabhängigen Kaisers Jehangir mehr und mehr die Führung der Reichsgeschäfte übernahm, war es auch, die für ihren 1622 verstorbenen persischen Vater das prachtvolle Itimad-ud-Daulat erbauen ließ.
Der quadratische Bau mit seinen vier kleinen Minaretten besaß eine Seitenlänge von 43 mal 43 Metern und vier knapp dreizehn Meter große Tore. Im Innenhof befand sich, von einem gepflegten Park umgeben, das Mausoleum des Wesirs auf einer erhöhten Empore. Ich strich mit der Hand über die Marmorwände, die sich wunderbar kühl anfühlten und setzte mich in den Schatten der Umfassungsmauern. Was für eine Wonne, sich von der zudringlichen Hektik der indischen Wirklichkeit in eine historische Nische flüchten zu können. Die unterhalb des Grabmals vorbei fließende Yamuna schien die Geräusche der Stadt zu schlucken, außerdem war es leer, denn die Touristen, die das Mausoleum gleichsam als Vorprogramm zum Taj Mahal besuchten, waren schon wieder verschwunden. Die abstrakten Formen und Girlanden, die die Marmorwände des Grabmals bedeckten, beruhigten mich - unwillkürlich folgten die Augen den Linien bis in die kleinsten Verästelungen, als sei das Rätsel der Schönheit wie eine Formel an die Außenwände des Grabmals geschrieben.
Sechs Jahre lang, von 1622 bis 1628, sollen die Bauarbeiten am ltimad-ud-Daulat gedauert haben - sechs stürmische Jahre, in denen der Großmogul Jehangir endgültig in seinen Opiumräuschen versank und während derer seine Gattin Nur Jahan den Thronfolger Prinz Khurram in den Aufstand gegen seinen Vater trieb. Am Ende, ein halbes Jahr vor der Fertigstellung des Bauwerkes, verstarb der alte Kaiser, und Nur Jahans eigener Bruder Asaf Khan beförderte die Kaiserin mit Einverständnis Prinz Khurrams aufs Abstellgleis. Nur Jahan wurde vom Hof verbannt und zog sich nach Lahore zurück, wo sie den Rest ihrer Tage die Bauarbeiten am Grabmal ihres Gatten Jehangirs beaufsichtigte. Prinz Khurram aber bestieg nach einem Blutbad sondergleichen als Shahjahan (Herrscher der Welt) den Mogulthron.
Mit Shahjahans Regierungszeit (1628-1658) erreichte das Imperium seinen Zenit und seinen Umkehrpunkt zugleich, denn seine aufwendigen Bauten in allen Regionen Indiens sollten die finanzielle Leistungsfähigkeit des Reiches bei weitem überfordern. Und das Gemetzel, das der Kaiser bei seinem Regierungsantritt an seiner Verwandtschaft angerichtet hatte, wurde zum Menetekel seines späteren Konfliktes mit seinem ungebärdigen Sohn Aurangazeb.
Wie schon sein Vater Jehangir war auch Shahjahan mit einer Frau aus der Familie des persischen Wesirs Ghias Beg verheiratet. Arjumand Banu, die Enkelin des Wesirs und die Nichte der alten Kaiserin, sollte den Ruhm Nur Jahans noch übertreffen. Als Mumtaz Mahal", als „Perle des Palastes", wurde sie die berühmteste Frau Indiens – tragischerweise durch nichts anderes als durch ihren frühen Tod. Mumtaz Mahal verstarb schon im vierten Regierungsjahr des neuen Kaisers im Alter von nur 39 Jahren, was den untröstlichen Shahjahan veranlasste, alle Ressourcen seines Reiches aufzuwenden, um für seine verstorbene Gattin ein Bauwerk zu errichten, wie es die Welt noch nicht gesehen hatte: das Taj Mahal. Künstler und Architekten aus Iran und Zentralasien, aus Venedig und Frankreich waren unter der Federführung des Kaisers an der Konzeption und der Durchführung des Baus beteiligt, aus allen Teilen des Reiches wurden Baumaterialien und Arbeitskräfte zusammenbezogen, und zeitweise arbeiteten zwanzigtausend Menschen gleichzeitig