Am nächsten Morgen war ich unausgeraubt, aber von Mücken zerstochen. Als ich den einzigen Schalter im Zimmer betätigte, zeigte sich keinerlei Reaktion, und mir wurde endlich klar, dass dieses Zimmer überhaupt keinen Stromanschluss besaß. Dafür sah es im trüben Morgenlicht womöglich noch schlimmer aus als gestern - plötzlich kam mir der Raum wie eine Kerkerzelle vor, wozu auch die mächtige Türe passte, die eindeutig neu war und die sich vom Rest der Einrichtung deutlich unterschied. Die meisten Kritzeleien an den Wänden waren in Hindi verfasst, es befanden sich aber auch einige Inschriften in Englisch an den Wänden. „Das ist die schlechteste Unterkunft, seitdem ich in Bangkok im Knast gesessen habe“, hatte einer geschrieben – ein anderer hatte gleich darunter vermerkt: „Warum bist du denn nicht dort geblieben?“ Ich stand auf, wusch mich mithilfe eines Eimers voll kalten Wassers, der auf dem Hof neben einem Brunnen stand, packte meine Sachen und nahm an der Hauptstraße eine Rikscha nach Vrindaban.
Vrindaban befand sich nur etwa zehn Kilometer nördlich von Mathura und lag ebenfalls direkt an der Yamuna. Mehr als die meisten anderen Städte Indiens handelte es sich um eine Tempelstadt mit Verehrungsstätten in jedweder Erscheinungsform: monumentale südindische Gopurams, modernistische Neubauten in grellen Farben, aber auch zahlreiche kleinere Verehrungsstätten, in denen immer nur zum gleichen Gott gebetet wurde: zu Krishna, dem Erlöser der Welt.
Die Gesamtheit der Krishna Überlieferung entstammt dem Mahabharatha und gehört wie das Ramayana zum Kernbestand der indischen Kultur. Der Legende nach wurde das Mahabaratha in Urzeiten vom Elefantengott Ganesha höchstselbst dem indischen Gelehrten Vyasa in die Feder diktiert. Wissenschaftler halten dagegen das Mahabaratha für eine Textsammlung aus den unterschiedlichsten Epochen, deren Ursprünge zwar bis in die altvedische Ära zurück reichen, die aber erst kurz nach der Zeitenwende abgeschlossen wurde. Obwohl sich das Werk in Hunderte von Nebenhandlungen mit Tausenden von Personen verzweigt, dreht sich die Haupthandlung um den Konflikt zweier altindischer Königsgeschlechter, der Kauravas und der Pandavas, die sich nach einer komplizierten und schier endlosen Auseinandersetzung schließlich in der Ebene von Delhi zur großen Entscheidungsschlacht von Kurushkreta treffen. Gläubige Hindus sind übrigens felsenfest davon überzeugt, dass das Mahabaratha geschichtliche Ereignisse berichtet, die sie sogar relativ exakt auf das 32. Jahrhundert vor der Zeitrechnung datieren.
Innerhalb der Haupthandlung des Mahabaratha tritt Krishna in zwei Formen auf. Einmal ist er der Prinz, der den Mordanschlägen seines Onkels Kamsa entgeht und im Verborgenen heranwächst, ehe er am Ende über den Tyrannen triumphiert. In diesem Erzählstrang gleicht Krishna einer Mischung aus Jesus, Herkules und Adonis mit zahlreichen menschlichen und liebenswerten Zügen. Dann erscheint Krishna in einem ganz anderen Kontext in der Entscheidungsschlacht von Kurushkreta als der Wagenlenker des Pandava-Helden Arjuna und verkündet diesem vor dem Beginn der großen Schlacht die Lehren der Bhagavad-Gita. Hier streift Krishna alles Menschliche ab und verwandelt sich in den wiedergeborenen Gott, der sich selbst und seine Lehre offenbart. Im Rahmen des Mahabaratha, das etwa 100.000 Strophen umfasst, nimmt die Verkündigung der Bhagavad-Gita zwar nur 700 Strophen ein, und doch gilt sie als die ethische und theologische Quintessenz des gesamten altindischen Denkens. Tod und Wiedergeburt, Vergeltung und Rechtschaffenheit, Karma und Dharma – das gesamte Räderwerk des Universums, das in den Grundzügen später auch von Buddhismus und Jainismus übernommen wurde, wird von Krishna in Gestalt eines großen Gedichtes in 18 Gesängen enthüllt – einschließlich einer düsteren Bestandsaufnahme des eigenen Zeitalters. Denn wie Krishna verkündete, war die Welt von Kurushkreta dabei, in das Kaliyuga, in eine Epoche des Hasses und der Zwietracht einzutreten, in der den Menschen die Verbindung zum Göttlichen entgleitet. Die Szene, in der Krishna auf einem Streitwagen dem Pandava-Helden Arjuna diese Lehre darlegt, gehört deswegen zu den am meisten dargestellten (und am meisten missverstandenen) Motiven der indischen Kunst.
In Vrindaban fand ich schon am Vormittag ohne Schwierigkeiten eine Unterkunft. Ich wohnte in einem von außen etwas verfallenen Gebäude in einer schmalen Gasse, die über zwei Ecken zu den Ghats an der Yamuna führte. Die Zimmer glichen mehr Nischen mit Türen als Räumen, doch die Betten waren sauber, und sogar das Licht funktionierte. Ich besaß sogar ein winziges Fenster, das sich öffnen ließ und durch das ich, wenn ich es schaffte meinen Kopf hindurch zu stecken, auf das Gassengewirr herunterblicken konnte. Unter den Gästen der Herberge befanden sich junge Briten, die sich darüber zu wundern schienen, dass es in diesem Guesthouse kein Bier zu kaufen gab, Frauen im mittleren Alter mit einem ostentativen Desinteresse an allem Männlichen, ältere Reisende im perfekten Outdoor-Dress, die mit Büchern im Essraum saßen, dazu einige Sanyasins, die in ihren rosafarbenen Gewändern entweder hinter ihren Türen ihre Meditationsperlen zählten oder sich in einem der Ashrams aufhielten.
Nicht weit von meiner Unterkunft befand sich das Keshi-Ghat von Vrindaban, eine lang gezogene Tempelfront, an deren Basis mehrere Treppen zur Yamuna führten. Das Gebäude besaß eine hellbraune Farbe, schattige Arkaden und Sitzecken, Fensterverzierungen und vier kleine Podeste, die die einzelnen Ghats voneinander trennten. Ich sah einen schlanken Mann im Schatten sitzen und lesen, seine Haare waren voll, aber schon ergraut, und sein kantiges Gesicht wirkte mit seinen hohen Wangenknochen und den tief liegenden Augen wie das Antlitz eines gealterten Krishnas. Neben ihm saß ein abgemagerter Pilger, Bart und Haare waren verfilzt, die Kleidung hing ihm in Fetzen vom Leib, und seine Arme und Beine glichen eher schwarzen Stöcken als menschlichen Gliedern. Auf einem der Ghats, eingezwängt zwischen zwei Podesten, hatte sich ein Yogi ausgebreitet, vor ihm lagen Girlanden und Bilder, über die er segnend mit seinen Handflächen fuhr, während eine Gruppe älterer Frauen ihn mit zusammengelegten Handflächen adorierte, als rette er in diesem Augenblick die Welt.
Träge floss die Yamuna an diesen Gestalten vorüber. Blumengeschmückten Boote fuhren von Ufer zu Ufer, und die Morgensonne illuminierte die weiten Felder auf der anderen Seite des Flusses, das Braja Mandal, jene Landschaft, in der Gott Krishna seine Jugend verlebt haben soll. Ein großer Teil der Anziehungskraft, die Krishna weit mehr als die anderen Götter des indischen Pantheons ausübte, mochte mit diesen Jugendgeschichten zu tun haben, in denen der kleine Krishna die Milch stibitzte, den Hirtenmädchen die Kleider versteckte oder mit seinen Freunden irgendwelchen Unsinn trieb. Dass in regelmäßigen Abständen eine Schlange, ein Pferdedämon oder irgendein anderes Monster auftauchten, um erfolglos zu versuchen, den kleinen Krishna zu ermorden, waren nur Zutaten für die immer wieder erzählte Geschichte einer Jugend, mit der Millionen Indern aufwuchsen.
Aber nicht nur die Inder können sich in Krishna wiedererkennen - seine Gestalt besitzt als einzige indische Göttergestalt sogar eine über Indien hinausgreifende Attraktion. Vrindaban war deswegen nicht eines der Hauptzentren der indischen Krishna-Verehrung - die Stadt beherbergte außerdem den Hauptsitz einer Missionsbewegung, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, die Krishna Religion über die ganze Menschheit zu verbreiten.
Sowohl die innerindische Krishna-Verehrung wie die indenübergreifende Krishna-Mission besaßen ihren Ursprung in der Gestalt eines im Westen fast unbekannten religiösen Reformators: Chaitanya Mahaparbhu (1486-1533), der in einer Epoche wirkte, in der ganz Indien durch einen überall triumphierenden Islam tief greifend erschüttert wurde. So barbarisch die Eroberer den Indern jener Zeiten auch erscheinen mochten - vor der Religion der Eindringlinge und ihrem strengen Monotheismus sanken alle Hindureiche in den Staub. Millionen Hindus – vorwiegend, aber nicht nur die Angehörigen der unteren Klassen - konvertierten zur egalitären Religion Allahs, und oft waren die Konvertiten die Eifrigsten, wenn es darum ging, Hindutempel zu zerstören, um Moscheen darauf zu errichten. In dieser Situation propagierte Chaitanya Mahaprabu zu Beginn des 16. Jahrhunderts einen erneuerten Hinduismus mit der zentralen Figur Lord Gestalt Krishnas, der nunmehr als persönlicher Schöpfergott aufgefasst wurde und dem gegenüber alle Unterschiede der Kaste, des