Impressum
ISBN 978-3-8442-5158-6
© editionqubus
published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
Epub
15.3.2013
www.editionqubus.ch
Bergstrasse 38
CH 8165 Schöfflisdorf
Das Bild als Möglichkeit
Ikonik
Mario Leimbacher
Die Bildfrage
Alltägliche Bilder
Das Einkaufzentrum, in dem wir uns wöchentlich mit dem Lebensnotwendigen eindecken, beherbergt wie alle mir bekannten Einkaufszentren die unterschiedlichsten Geschäfte. Das grösste und am besten besuchte ist das Lebensmittelgeschäft, das auch wieder aus unterschiedlichen Abteilungen besteht. In der ersten finden wir die Frischprodukte mit den Unterabteilungen Gemüse, Salate und Früchte. In der Unterabteilung Früchte, die aus mehreren grossen Gestellen und wenigen Korbbehältern besteht, gibt es weitere Bereiche. Wir finden hier Gestelle mit grossen Mengen reifer Saisonfrüchte, exotische Früchte, Aktionen und einheimische Früchte. In den Gestellen der einheimischen Früchte können wir zwischen den einzelnen Fruchtarten, den Trauben, Äpfeln und Birnen unterscheiden, und innerhalb dieser Kategorien sind die einzelnen Sorten in einem oder mehreren Behältern zu finden. Ich kann mich hier also in einem grünen Kunststoffgitter bei der Apfelsorte "Boskoop" bedienen, die ich für einen Apfelstrudel verwenden möchte. Oberhalb der Gestelle hängen Poster mit schönen roten Äpfeln, Trauben und hellgrünen Birnen, auf denen in einem markanten Schriftzug der Slogan "MEHR SAISONFRISCHE" lesbar ist.
Jede dieser Sorten ist an einer Gitterseite gut sichtbar mit einem Schild versehen, auf dem eine Nummer, der Name, die Herkunft und der Preis dieser Gegenstände stehen. Das bedeutet, dass alle Dinge innerhalb eines Gitters dieselbe Nummer, denselben Namen und denselben Preis haben. Wenn ich genau hinsehe, finde ich sogar auf jedem einzelnen der grösseren Gegenstände einen kleinen farbigen Kleber, auf dem eine Herkunftsbezeichnung sichtbar ist. Somit finde ich hier eine der Möglichkeiten realisiert, die der Philosoph Ludwig Wittgenstein in seinen “Philosophischen Untersuchungen“ vorgeschlagen hat, die darin besteht, die Dinge zu bezeichnen, indem man ihnen eine Etikette mit dem Namen anheftet. Die Verbindung von Wort und Gegenstand ist im Falle dieser Früchte vorbildlich gegeben (vgl. Wittgenstein 1953).
Ich vermute jedoch, dass Wittgenstein diese Idee nicht so wörtlich verstanden hat und darüber erstaunt wäre, sie hier verwirklicht zu finden.
Ich nehme 10 Stück einer Sorte dieser eindeutig bezeichen- und berechenbaren Gegenstände, fülle sie in einen Sack, lege den Sack auf ein Waage, gebe die dazugehörende Nummer ein und erhalte so einen Kleber, auf dem der Preis steht, den ich zu bezahlen habe. Diesen Kleber hefte ich auf den Sack. Ich gerate so in den Besitz einer Menge Äpfel, die eine Reihe von Betrachtungen auslösen könnte und die auf den ersten Blick weder mit meinem Ziel, einen Apfelstrudel zu machen, noch mit dem Thema dieser Betrachtungen, nämlich den Bildbegriff genauer zu erfassen, etwas zu tun haben. Zumindest philosophische, semiotische und mathematische Betrachtungen könnten von diesem Moment ausgehen, vermutlich auch psychologische, soziologische, biologische, physikalische und weitere mehr. Im Blick auf den Korb mit Äpfeln öffnet sich vor mir ein Ozean menschlicher Beschäftigungen und Wissenschaften.
Ich gehe ganz selbstverständlich davon aus, dass die Bezeichnungen und damit die Kategorisierung eindeutig sind, dass also die Nummer und der Name denselben Gegenstand bezeichnen und es im ganzen Geschäft keinen zweiten Ort gibt, an dem ich denselben Gegenstand möglicherweise mit einer anderen Nummer oder einem anderen Preis erhalte.
An einem weiteren Ort im selben Geschäft erkenne ich im Bereich der Haushaltsartikel und zwischen den Schreibwaren und Toilettenartikeln ein Gestell, in denen es Bilder gibt. Ich finde aufgerollte Poster, Bilder in Holz- oder Kunststoffrahmen in verschiedenen Ausführungen und Grössen, aber auch leere Rahmen. Im benachbarten Gestell sehe ich eine grosse Menge Bilder, alle im Format A5, zusammen mit einem Briefumschlag in eine Folie verpackt. Sie sind mit "Geburtstage", "Hochzeiten", "Gratulationen" und weiteren Anlässen bezeichnet.
Beim Betrachten dieser Gegenstände erkenne ich auch gewisse Merkmale im Sinne von Arten oder Sorten. Es gibt grosse, aufgerollte Poster, verschiedene Sorten gerahmter Bilder, die sich durch ihre Grösse aber auch durch die Beschaffenheit der Rahmen unterscheiden.
Ein Merkmal dieser Dinge besteht darin, dass sie auf der einen Seite einfarbig und auf der anderen Seite mehrfarbig sind. Die mehrfarbige Seite zeigt Dinge, die ich auch sonst in der Umgebung sehe oder aus anderen Quellen kenne, zum Beispiel Früchte, Blumen, Tiere, Menschen oder andere sonst auch sichtbare Dinge. So wie bei den Äpfeln ihre Gemeinsamkeiten in der Form, der Farbe, dem Geschmack und dementsprechend in der Verwendung vorliegen, zeigen auch diese Objekte Gemeinsamkeiten im Aussehen und in der Verwendung.
Ich könnte nun also neben den 10 Äpfeln, die ich für einen Kuchen gekauft habe, ein Bild kaufen, das auch wieder eine Menge Äpfel zeigt. Ich kann aber diese Äpfel nicht für einen Kuchen verwenden, sondern würde diese Äpfel, respektive das Bild zuhause an eine Wand hängen oder in einem Briefumschlag verschicken. Der Unterschied erscheint banal, denn in der linken Hand, in der ich eine Postkarte halte, befindet sich ein Papier, in der rechten ein Sack mit Äpfeln. Mit den Äpfeln auf dem Bild kann ich keine Kuchenfüllung machen, dafür sind sie zu wenig rund und weder das Gewicht noch der Geruch stimmen. Für meine Augen sind sie sehr schön und appetitlich, für die Hände und die Nase fühlen sie sich schlecht an. Die Äpfel auf den Bildern sind nicht wirklich.
Mit diesem unscheinbaren Wort "wirklich" bin ich nun über das Ufer getreten. Der banale Unterschied kann, wenn mich diese Frage nicht loslässt und ich sie strapazieren möchte, zu einem gravierenden werden. Mit dieser Feststellung hat mich eine Welle der Frageflut erwischt, denn was macht die Äpfel in meiner rechten Hand wirklicher als die abgebildeten in meiner linken? Gibt es Unwirkliches? Ist der Begriff nicht selber schon ein Widerspruch, denn es gibt doch nichts, das nicht wirkt? Ist das Unwirkliche weniger wert als das Wirkliche? Beinhaltet das Bild einen Fehler? Warum werden mir in diesem Geschäft falsche Sachen angeboten? Warum sollte ich etwas kaufen, das nicht wirklich ist?
Oder vermittelt das Bild eine andere Wirklichkeit? Wirkt es anders? Werde ich manipuliert? Oder liegt das Problem möglicherweise an der hier verwendeten Sprache, denn wenn ich das Wort Äpfel verwende, ist dieses Wort ja selber auch nichts als eine Bezeichnung für etwas, an das wir uns erinnern, das wir uns vorstellen. Das Wort ist so wenig ein Apfel wie das Bild, das ihn abbildet.
Für meine alltäglichen Besorgungen bildet dieser Konflikt kein Problem. Zu den Fragen, die sich bilden könnten, kommt es gar nicht, denn fast jede Person an meiner Stelle würde feststellen, dass Bilder eben Bilder sind, und die anderen Dinge eben einfach nur Dinge mit klaren Namenstäfelchen. Der Ozean möglicher Fragen ruht weit weg von diesem Alltag. Menschen, die an diesem Ort stehen bleiben und ins Grübeln kommen, geraten in Gefahr, als seltsam abgestempelt zu werden. Solche, die von diesen Fragen überflutet werden und vergessen, warum sie einen Sack voller Äpfel im Einkaufswagen haben, werden therapiert und vielleicht medikamentös behandelt, damit sie dieser Fragewelt wieder entkommen können.
Es gäbe nun noch weitere Beobachtungen zu beschreiben, die bezüglich der Seriosität des Einkaufszentrums hinsichtlich des systematischen Bildens von Kategorien in den Abteilungen Unsicherheit entstehen lassen. Die meisten der angebotenen Gegenstände sind eindeutig bezeichnet und in Kategorien geordnet, so dass sie wie in der Mengenlehre ineinander verschachtelten Mengen zuzuordnen sind. Das Rüstmesser, das ich verwende um die Äpfel zu rüsten, hängt bei der Sorte Küchenmesser, welche ich innerhalb der Kategorie Schneidewerkzeuge in der Abteilung der Haushaltsartikel finde.
Aber warum sind in der Nähe des Gestells der Schneidewerkzeuge Bilder aufgereiht?