Der raumlose Raum. Peter Mussbach. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Peter Mussbach
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737537735
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mit Unterwasserbeleuchtung – allgemeines Wirtschaftswunder. Irritiert reibt er sich manchmal die Augen. Kaum wahrnehmbarer Dunst macht die Bilder unscharf, zeitweilig verschwimmen die Gesichter. Woher das rührt, kann er aus den unterschiedlichsten Gründen nicht sagen. „Der steht in jedem Zimmer“, murmelt er vor sich hin, „wie der gelbschwarze Dunst auf einem alten Photo, der alles überzieht.“

      Manchmal ist alles irgendwie schief, schief und bewegungslos. Sein Vater will davon nichts wissen. Er sieht aus wie eine grobe Mischung aus Jean Gabin und Ludwig Erhard als Sportler, also dick, ja unförmig, aber sehr beweglich. Und charmant mit vielen Verhältnissen. Das riecht er. Aber er riecht auch den süßbitteren Hauch, welcher aus dem brandneuen, hautengen Strickkleid seiner Mutter dringt. Manchmal, ganz ohne Grund.

      „Was du wieder sagst, von welchem Geruch redest du?“ – Seine Mutter will das nicht hören, denn sie ist nach der Trümmerfrau die nächste Generation von Frau, die betont, einfach Glück gehabt zu haben: Das läge ja schließlich in der Luft, man käme wieder voran, nach all den Entbehrungen. Sie sagt das wie die Knef, sieht aus wie die Pulver, will aber so sein wie Lollobrigida. Da ist der Geruch wieder, eine Art Mandelgeruch. Bittersüß. Als Seidenpapier in der Luft, das klammfeucht die Konturen verklebt.

      Häufig kommt Besuch; der heißt schnell „Freundekommen“. Freunde sind die, welche auch Glück gehabt haben und viel verdienen, weil sie es verdient haben. Neidisch ist man trotzdem aufeinander. Was der eine hat, hat man möglicherweise selber noch nicht: Es herrscht Aufbruchstimmung, da will keiner zurückstehen! – Man bestaunt den neuen Kühlschrank im Keller der Freunde und bestellt am nächsten Tag denselben. Eine Bar im Keller, die man sich leisten können muss, ist der Geburtsort der Party. Wenn man keine Party machen kann, weil man noch keine Kellerbar hat, kommt der Innenarchitekt und überholt die Freunde rechts. Dann ist drunten „richtig“ Party, was die anderen Freunde in ihrem Keller so nicht hinkriegen.

      Man legt das Dekolletee frei und stelzt durch die Wohnzimmerhallen wie in Schöner Wohnen, dessen Hefte sich in der Bibliothek stapeln, weil sie die Hausbar ist. Und man spielt Tennis, schließlich will man fit bleiben und hasst den Gedanken, älter zu werden. Wer nicht mithält, sitzt ersatzweise auf dem Schiedsrichterstuhl und zählt 30 zu 40, bevor „Einstand“ ist.

      Draußen in den Gartenanlagen steht Tropenholz vor den Fenstern, die bis zum Boden reichen. Die Heizungskörper drinnen haben sie versenkt, damit man ungehindert ins Freie treten kann. Der Fernseher läuft, es herrscht Heiteres Beruferaten: Wenn der Stargast kommt, zieht sich das Rateteam die Masken vor die Augen und stochert sich ein Bild zu Recht: „Ihr Haar ist dunkel und ihr Mann heißt Giller, dann können sie nur Nadja Tiller sein.“

      Immer gibt es Stoffservietten, die montags frisch auf den Tisch kommen. Am Wochenende erinnern sie mit ihren ekelhaft gelbbraunrötlichen Flecken an das zu Tode desinfizierte Wachstuch mit seinen gelbbraunrötlichen Stockflecken, auf dem er operiert wurde, als er knapp ein Jahr alt war.

      Gemeinsam mit seinen Eltern sitzt er am Tisch, der mal größer, mal kleiner wirkt, je nachdem, wie die Stimmung ist. Die Dinge rücken von ihm ab oder rücken ihm auf den Pelz. Er kann sich nicht helfen: Wie er sich fühlt, so sieht er. Und was er sieht, so fühlt er.

      Sonntagmorgen. Gemeinsames Frühstück. Heute rückt ihm sein Vater auf die Pelle, ganz dicht vor ihm sein riesiges Gesicht, so schmal war der Tisch noch nie. Zwischen seinen ungeschlachten Fingern hält er ein vom Zweiten Dienstmädchen sorgsam gepelltes Ei, dessen dünnflüssigen Dotter er sabbernd in sich hineinschlürft. Da rennt er zur Toilette, weil er sich übergeben muss. Wenn er seinen kurzen Oberkörper endlich über das Becken beugt, kommt nichts als ein wenig gelbbraunrötlich anmutender Schleim aus seinem aufgerissenen Gesicht: Ladehemmung. Gefangen.

      Vater und Mutter

      Der Vater seines Vaters war Antinazi. „Es liegt eben in der Familie!“ Darauf beharrt sein Vater, als wolle er es ungeschehen machen, in der Partei gewesen zu sein.

      „Hacket ihn ab, denn er ist zu nichts nütze“, titelte der Völkische Beobachter über seinen Großvater, als der Mitte der dreißiger Jahre in der Universitätsaula eine gewagte Rede gegen den Braunen Terror gehalten hatte. Sein Sohn hörte ihm zu. Er stand an der weit geöffneten Tür des überfüllten Saales; sollte es brenzlig werden, hätte er schnell das Weite suchen können. „Der Mut meines Vaters damals ist noch heute zu bewundern“, sagt er später.

      Als Anwalt verdient sein Vater so viel Geld, dass er sich selber manchmal die Augen reibt. Seit Ende der vierziger Jahre führt er die erste Kanzlei der Stadt, die er angesehen und erfolgreich betreibt. Schon damals hatte er gute Beziehungen, die Entnazifizierung war kein Problem.

      Als er sich genötigt sieht, seinen Sohn endlich aufzuklären, „bevor es zu spät ist“, wie seine Mutter sagt, setzt er ihn sich im Wintergarten auf den Schoß: „Ziehe niemals einem Mädchen das Höschen von der Scham, wenn es nicht will“, sagt er ihm, „stell dir vor, die sagt im Nachhinein noch, du hättest sie vergewaltigt, das kostet, besonders, wenn du sie geschwängert hast. Unseren Ruf kannst du dann ohnehin vergessen.“ Seine Mutter, die stets kontrolliert wirken möchte und vorgibt, alles im Griff zu haben, hat nichts im Griff. Vielleicht redet sie deshalb in unangenehmen Situationen immer wieder von Bertha Krupp: „Die war tapfer und versuchte zusammenzuhalten, was zusammenzuhalten war, aber alles hatte selbst sie nicht im Griff.“

      Im Griff hat sie ihn nur einmal, da ist er gerade mal ein halbes Jahr alt. Sie muss ihn wickeln, weil die Dienstmädchen frei haben. Und wieder schreit er wie am Spieß, weil er ihre groben Griffe nicht erträgt. Die Halsschlagadern schwellen, im Kopf kommt kein Blut mehr an, und er droht – wie immer in solchen Situationen – ohnmächtig zu werden und sinkt leblos zur Seite. Da packt sie ihn kopfüber und prügelt ihn kräftig durch, so, wie der Kinderarzt es ihr geraten hatte. „Schließlich habe ich schon zwei Kinder verloren, was sollten wir denn machen“, sagt sie zu seinem Vater, „aber immerhin, es hat etwas gebracht, er hat das nie mehr wieder gemacht.

      In seiner Mutter herrscht unbestimmbare Unruhe. Das ist ihr einziges, wahres Geheimnis. Egal wie ihr zumute ist, sie ist angespannt. Bald schon wirft sich sein Vater in die Arme der Miezen vom Tennisclub. Und er übt nachmittags nach der Schule stundenlang Klavier, nur um sich der Mutter zu entziehen. Oder er haut in sein Zimmer ab. Oder er radelt davon und keiner weiß, wo er steckt. Oder er kriegt Magenschmerzen und darf im Bett bleiben. Ein weiteres „Oder“ bleibt ihm nicht.

      Auf dem Flügel, auf dem er übt, „wie ein Wahnsinniger“, spottet sein Vater, stehen die in Silberrahmen gezwängten Familienangelegenheiten: Die Photos seiner beiden toten Brüder zum Beispiel. Oder der merkwürdige Vater seiner Mutter, sein „schiefer“ Großvater, der ihm ein Rätsel ist, ganz im Gegenteil zum Vater seines Vaters, der ein offenes und lustiges Gesicht hat – ein echter Antinazi. Oder sein Vater als Nachrichtenoffizier im besetzten Paris, der gerade zum Militär eingezogen, jung und frisch, keck dem Feind ins Gesicht schaut. Oder seine Mutter, adrett im Tenniskostüm. Oder, schön wie Grace Kelly, vor dem Bayreuther Festspielhaus.

      Auf einer Photographie sieht er sich selbst, wenn er spielt, wie er da beim Spazierengehen einem Teddybären gleich zwischen seinen Eltern hängt. Die hat er selber auf den Flügel gestellt. Früher lag sie im Keller im Schrank, unter hundert anderen versteckt. – Immer dann, wenn er eine ohnmächtige Wut im Bauch hat, donnert er auf die Tasten und lässt die Bilder auf dem Flügel tanzen wie verrückt: „Du spielst ganz toll, mein Junge“, sagt sein Klavierlehrer zu ihm, „warum aber immer so laut?“ Damit die Bilder tanzen“, antwortet er lakonisch.

      „In dir erkennt man die typische Frau nach der Trümmerfrau“, sagt sein Vater zur Mutter, „du hast das Gröbste hinter dir und willst jetzt endlich das schöne Leben“, nachdem er im Halteverbot bei laufendem Motor ewig auf seine Frau gewartet hat, die noch schnell im Laden ihre Bestellungen abholen muss. „Und mit dir habe ich die beste aller Partien gemacht!“, antwortet sie. – Das erzählt sie auch jedem in der Stadt, wenn sie in ihrem Karmann Ghia mit einem der Dienstmädchen beim Einkaufen unterwegs ist: „Ich helfe beim Wiederaufbau und mache alles schön. Und mein Mann hilft mir dabei, weil er gut verdient.“

      Am