„Ein Gruß soll dir aus Vorderpommern
Und aus dem hintern entgegendonnern!“
Noch als alter Mann fand er die Geschichte komisch und lachte meist selber, bevor er die Pointe erklärte.
Ein paar alte Ansichtskarten vermitteln nur einen schwachen Eindruck davon, was man sich unter diesem Ort vorstellen kann. Postkartenbilder mögen zwar wichtige Einblicke geben, die Realität kommt jedoch staubiger und weniger idyllisch daher als es diese glänzenden Reproduktionen glauben machen. Dennoch verschaffen die Fotografien eine kleine Vorstellung, auch wenn alles darauf so herausgeputzt aussieht, dass man es fast nicht glauben mag.
Verlässt man die Stadt in Richtung Osten, umschließen bewaldete Hügel eine längliche Wasserfläche, deren Verlauf das Urstromtal ahnen lässt, welches diese Landschaft vor Jahrmillionen geformt hat. Eine Allee aus Laubbäumen begleitet das linke Ufer eines Gewässers, das Fünfsee heißt. Es gehört zu einem Landstrich, den man wegen seiner Endmoränenhügel ‚pommersche Schweiz‘ nennt. Im linken Vordergrund des Fotos erkennt man eine Scheune in Fachwerkausführung.
In der Mitte der Stadt imponiert der mächtige Turm der Marienkirche. Er ist bis in große Höhe so breit angelegt, dass er einer einzigen, riesigen Backsteinfassade mit einem winzigen Deckel von Dach gleicht. Drei Reihen gotischer Fensteröffnungen verleihen dem Bauwerk Würde und Ruhe.
Ganz in der Nähe der Kirche befand sich der Marktplatz. Man sieht auf der Postkarte mehrere Pferdegespanne, die verloren auf dem von Häusern umschlossenen, menschenleeren und ungepflasterten Platz stehen. An einer barocken Fassade prangt eine schwarze Tafel, auf der man „Kaiser’s“ lesen kann, den Hinweis auf das im Erdgeschoss hinter großen Fenstern befindliche Kolonialwarengeschäft. Auf einem weiteren Foto erkennt man im Hintergrund sogar ein Automobil.
Der Bahnanschluss, der für die Familie große Bedeutung hatte, stellte das Tor zur Welt dar, das heißt in Richtung Norden zur Ostsee und nach Westen in Richtung Stettin. Der Weg nach Osten war seit 1918 durch den polnischen Korridor unterbrochen. Auf dem Foto sind die Schienen für den Fotografen das Wichtigste. Sie verlieren sich vor der im Hintergrund aufragenden Kirche und passieren eine Reihe von Bahnhofsgebäuden, wie sie Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland tausendfach gebaut worden sind.
So muss man sich das Städtchen Schivelbein und seine Umgebung, die pommersche Schweiz, zu Beginn des letzten Jahrhunderts vorstellen. Hier begann Karl sein erstes Leben.
Sein Vater, der als Lokomotivführer im Beamtenstand arbeitete, war zwar ständig unterwegs, kam aber nicht wirklich weiter, da er auf der Strecke zwischen Schivelbein über Polzin nach Dramburg hin und her fuhr. Manchmal wurde er für die Fahrt über Belgard nach Kolberg an der Ostsee eingeteilt. Waldemar liebte seinen Beruf. Mitgliedschaft in der SPD und in der Gewerkschaft waren für ihn selbstverständlich.
Karl war ein aufgewecktes Kind und die Abschiedsworte des Onkels hatten ihn angestachelt, auch wenn er nicht genau wusste, wie die zu bauende Zukunft genau aussehen sollte. Er durfte nach dem Abschluss der Volksschule auf der örtlichen Landwirtschaftsschule weiter lernen, die den Zugang zu höherer Bildung in Gestalt der mittleren Reife eröffnete. Für Waldemar war Bildung auch für die Kinder der Arbeiter und kleinen Leute ein wichtiges Anliegen, weshalb er gerne zustimmte, als die Lehrer ihm von den guten Leistungen seines Sohnes berichteten. „Er soll einmal etwas Besseres werden als ich“, hat er gedacht.
Viehzucht und Ackerbau gehörten neben den Grundfächern zum Lehrplan der Landwirtschaftsschule. Schaden konnte das dabei erworbene Wissen im späteren Leben nicht, wie er seinem Sohn erläuterte. Waldemar unterhielt zur Aufbesserung des mageren Gehalts wie viele kleine Beamte einen Garten zur Versorgung der Familie mit Salat und Gemüse. Da konnte es von Vorteil sein, wenn der Sohn sich ein wenig auskannte.
Von der großen Stadt Berlin, die Schröder als „Metropole“ bezeichnet hatte, blieben dem Neffen Karl nur die Erinnerungen an die Erzählungen des geheimnisvollen Onkels. In der Realität war die Stadt so weit weg, als läge sie auf einem anderen Planeten, aber der Name hatte einen besonderen Klang erhalten.
Zunächst blieb es aber neben der Arbeit im elterlichen Garten und der ohne Mühe absolvierten Schule bei gelegentlichen Ausflügen mit dem Vater, z.B. zum Angeln an den Beustriner See mit seinen stillen Wäldern oder eben nach Fünfsee. Natürlich fuhr man mit dem Fahrrad dort hin.
Ob wirklich Fische gefangen wurden, hat Karl nie erzählt. Aber bei Besuchen in dem Hafenstädtchen Kolberg an der Ostsee gab es Heringe und andere Köstlichkeiten zu essen. Jahrzehnte später, in den Sechzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts, konnte man erleben, wie Karl auf einer Reise nach Holland ein Matjesfilet durch die geschnittenen Zwiebeln in einem Pergamentpapier zog, seinen Hals nach hinten bog und den Fisch mit einem seligen Gesichtsausdruck in den genüsslich geöffneten Mund führte.
Höhepunkt des eher beschaulichen Lebens in Pommern waren die Regelübertretungen, zu denen sich der Vater leider selten hinreißen ließ. Als Lokomotivführer und preußischer Beamter achtete er streng auf Einhaltung der Eisenbahnbetriebsordnung und generell der guten Ordnung und Disziplin – aber es gab Ausnahmen. Die Trasse der von ihm bedienten Kleinbahn führte von Schivelbein über Polzin nach Dramburg und wenn in den Sommerferien weniger Fahrgäste zu erwarten waren, durfte sich Karl hinter Polzin auf der dem Bahnsteig abgewandten Seite des Zuges nach vorne zur Lokomotive schleichen. Die Sprossen, die den Zugang zum Führerhaus ermöglichten, waren in großer Höhe angebracht und die Lokomotive stand meistens schon außerhalb des Bahnsteigs. Die Begeisterung und die Hand des Vaters mussten beim Klettern helfen. Für den Rest der Strecke teilte Karl sich mit dem Vater und dem Heizer den engen, lauten und beim Nachfüllen der Brennkammer heißen Fahrerstand. Begeistert ließ er sich Ruß und Wind um die Nase wehen.
In den Jahren während des 1. Weltkrieges mussten Karl und sein Bruder Heinz regelmäßig in dem Garten mitarbeiten, den die Familie als Wohltat der von der Deutschen Reichsbahn geförderten Bewegung der Eisenbahnerlandwirte nutzen durfte. Als Angehörigem der großen Reichsbahnfamilie stand Waldemar ein solches Stückchen Land zu. Die eigene Gemüseproduktion war für das Überleben der Familie von existenzieller Bedeutung.
Nach Kriegsende komplettierte eine Wandervogelgruppe das Freizeitangebot in Schivelbein, der Karl sich trotz gewisser Bedenken der Eltern anschließen durfte. Das distanzierte den Kuntze-Sohn von vielen traditionellen Familien, die den Sozis und diesen Naturburschen ohnehin misstrauisch begegneten. Dieses Misstrauen wurde durch die Wander- und Naturromantik der Gruppe verstärkt. Die Natur war für die Landbevölkerung ein eher feindliches Gegenüber, dem man mühsam den eigenen Lebensunterhalt abringen musste. Für Romantik war da wenig Verständnis und insbesondere für Gruppen, die sich zwar viel in der Natur aufhielten, aber ersichtlich dort nicht wirklich sinnvoll arbeiteten.
Es ist nicht überliefert, welcher der Richtungen und Abspaltungen dieser Jugendbewegung die pommersche Gruppe in Schivelbein angehörte. Sicher haben sie nicht nur das Thema der Alkoholabstinenz (das einen Grund für Spaltungen abgab) oder des gemeinsamen Wanderns von Jungen und Mädchen (das einen weiteren Streitapfel darstellte) diskutiert, sondern vor allem auf den gemeinsamen Ausflügen gesungen.
Ein in Ost- und Westpreußen etwa zu dieser Zeit entstandenes Lied gehörte zum Repertoire aller Richtungen des Wandervogels, eines, das in verschlüsselter Form das Elend und die Folgen des gerade erst beendeten Krieges besingt: „Zogen einst fünf wilde Schwäne, Schwäne leuchtend weiß und schön.“ Jeder wusste, was gemeint war, wenn es weiter heißt: „Sing, sing, was geschah? Keiner ward mehr geseh‘n“ und Karl kannte diesen Text bis ins hohe Alter mit allen vier Strophen, auch der über die „fünf jungen Burschen“, die kühn in den Kampf zogen und nicht heimkehrten.
Die Familie Kuntze lebte am Rande Schivelbeins und wenn seine Mutter es wünschte, zog Karl mit ihr über die breite Kolberger Straße, durch das hohe Backsteintor in den Park, der die grüne Oase um das riesige Deutschordensschloss darstellte, das leicht erhöht auf einem mauerumfassten Gelände stand. Mit dem Backsteinturm und der abgerundeten Fassade des Hauptgebäudes wachte es herrschaftlich über die Umgebung. Elsbeth liebte