„Hast du so etwas schon einmal gehört: liberaler Sozialismus? Das klingt für mich wie gesetzestreue Anarchie oder kirchlicher Atheismus!“
„Na ja, du hast natürlich Recht, dass ein Sozialismus ohne Herrschaft der Arbeiterklasse über die Produktionsmittel nicht funktionieren kann.“
„So ist es! Mit der romantischen Vorstellung von der Verteilung des Grundbesitzes an alle ist keine der heute brennenden Fragen gelöst und das ist alles, was den Nelsonianern dazu einfällt. Und da ist der Rauschenplat ganz vorne mit dabei!“
Sie waren in Fulda angekommen und mussten umsteigen. Die Wagen des D-Zugs in Richtung Frankfurt waren bequemer und deutlich geräuschärmer als die bisher genutzten. So konnte Bruno Laub seinen Mitreisenden erzählen, was er vom ISK wusste und das war nicht wenig.
Bei Karl blieb hauptsächlich das hängen, was mit dem Prinzip der Führerschaft im ISK zu tun hatte. Die Besten sollten gewissermaßen selber erkennen, dass sie Führer sind und diese Rolle übernehmen. Demokratie sei eine „Narrenbühne, auf der der pfiffigste oder bestbezahlte Schwätzer dem vornehmen und nur auf seine gute Sache bedachten Charakter den Rang abläuft“, hatte Nelson formuliert.
Auch später, als in Berlin die Roten Kämpfer Karl in ihren Bann zogen, hatte er sich manchmal gefragt, wer eigentlich genau wusste und bestimmte, was das Gute und Richtige war, dem man sich verpflichtet fühlte und für das man kämpfte. Bei seinem Onkel und den anderen war er sich allerdings sicher, dass sie es wussten. Sie waren zwar nie gewählt worden, aber an ihrer Position als ideologische Führer zweifelte niemand.
Zurück in Frankfurt standen Karl zwei entscheidende und für sein zukünftiges Leben bedeutsame Ereignisse bevor: Das erste sexuelle Erlebnis und die Abschlussprüfung der Akademie.
Ein Unwetter
Am 13. Juni 1930 richtete ein Unwetter mit Hagelschlag und Überschwemmungen in Sachsenhausen erhebliche Schäden an. Karl begleitete an diesem Tag nach den Vorlesungen Marianne in die Gartenstraße. Unterwegs wurden sie vom Sturzregen überrascht. Als er sie in den Arm nahm und versuchte, sie mit seiner Tasche vor den Wassermassen zu schützen, lachte sie und gab ihm den ersten Kuss.
In einem Liebesfilm hätte sich die durchnässte Schönheit ängstlich an ihren Helden geschmiegt, schmachtende Blicke geworfen und ein inniger, mehrminütiger Kuss wäre alsbald unvermeidlich gewesen. Über die in Großaufnahme gezeigten Gesichter liefe dekorativ Wasser. Solche künstliche Romantik war Marianne fremd, aber sie hatte nun endlich ihren Berlinert Schmerz überwunden und lustig war es auf jeden Fall, klatschnass aneinander zu kleben.
Im Spätsommer 1930 hatte Marianne sich überreden lassen, allein mit Karl ein Wochenende zu verbringen. Kultur und Politik sollten zurücktreten und sie wollten auch einmal ohne die Studienfreunde in der Natur unterwegs sein. Den beiden anderen erzählten sie nichts von ihren Plänen und fuhren mit der Bahn nach Bensheim an der Bergstraße und leisteten sich – im Gegensatz zu den sonst bevorzugten Quartieren im Heuschober eines Bauern oder im Schlafsaal einer Jugendherberge – ein Zimmer in einem Gasthof. Als sie am Nachmittag in dem einfachen Gasthauszimmer standen, verließen sie erst einmal das Haus.
Sie unternahmen eine große Wanderung. Vom Schloss Auerbach, hoch über der Stadt Bensheim, schweift der Blick über die Rheinebene bis zum Pfälzerwald. Von Marianne ließ sich Karl die Blumen und Sträucher am Wege mit wesentlich größerer Begeisterung erklären als in Polzin von seinem Großvater.
Als sie wieder einmal in die weite Aussicht vertieft war, erschreckte er sie mit dem schrillen Ton, den er einem zwischen die Daumen beider Hände gespannten Rispengrasblatt entlocken konnte.
„Um Gottes willen, Karl, was ist das denn?“
„Das ist der Brunftschrei des Ochsenfrosches!“
Das Abendessen ließen sie aus. Marianne teilte in ihren Lebenserinnerungen mit, dass das Zusammensein schlimme Folgen hatte. Als nämlich die zunächst als normale Begleiterscheinung bemerkte Blutung nicht aufhören wollte, breitete sich Panik aus. Karl musste die Wirtsleute um Hilfe bitten und sie brachten die völlig aufgelöste Marianne in das nächste Krankenhaus.
In Bensheim existiert seit mehreren Hundert Jahren das Heilig-Geist-Spital, das von einer kirchlichen Stiftung betrieben wird. Die Nonnen, die an jenem Wochenende dort Pflegedienst verrichteten, riefen sofort den diensthabenden Arzt und schickten den jungen Begleiter der Frau erst einmal hinaus. Mit bangen Gefühlen saß Karl im düsteren Gang und wunderte sich, als nach kurzer Zeit zwei Polizeibeamte am Ende erschienen.
„Sie bleiben hier sitzen, junger Mann!“ Eine der Schwestern huschte an ihm vorbei.
„Aber was hat das zu bedeuten?“
„Was?“
„Die Polizei?“
„Das werden Sie schon erfahren.“
„Was ist mit meiner Kommilitonin?“
„Was wird schon sein?“
Jetzt erst begriff er. Sie hatten die Polizei verständigt, weil sie vermuteten, sie hätten es mit den Folgen eines Abtreibungsversuchs zu tun. Bitter dachte er an den Theaterbesuch und das Gespräch mit dem Autor Friedrich Wolf. Er wunderte sich, als die Polizeibeamten wenig später das Krankenhaus wieder verließen, ohne ihn angesprochen zu haben.
Nach der Untersuchung durch den Arzt und der Verabreichung der ersten Spritze änderte sich das ursprünglich feindselig-misstrauische Klima. Die Nonnen, die vorehelichen Verkehr nicht billigen konnten, wurden freundlich zu der jungen Frau, der es so übel ergangen war. Vielleicht mischte sich auch ein wenig Genugtuung in ihre Empfindungen, da der Vorfall wie eine Bestätigung der Sündhaftigkeit des Verhaltens der beiden Studenten auf sie wirken musste. Marianne musste zwei Tage in der Klinik bleiben, bis die Blutung endgültig zum Stillstand gekommen war. Bei der Aufnahme ihrer Personalien legte sie Wert darauf, dass sie als Frau und nicht als Fräulein bezeichnet wurde.
„Stell dir vor, die Polizisten wollten eine Anzeige aufnehmen!“ Bleich lag Marianne in dem Krankenhausbett. Er hielt ihre Hand. „Der Arzt hat ihnen aber gleich gesagt, dass ihr Verdacht falsch war.“
„Es tut mir so leid!“
Karl verbrachte die nächsten zwei Tage noch in Heppenheim. An die Sünde glaubte er nicht, aber er hatte sich die Sexualität doch etwas anders vorgestellt. Vor allem traf ihn die Konsequenz hart, die Marianne aus der Sache zog: „Lass es mal vorläufig bei unserer Freundschaft und gib uns Bedenkzeit. Außerdem müssen wir alle aufs Examen lernen.“
‚Das ist ja ein schöner Kladderadatsch‘, dachte er. Das Wort war ihm sofort peinlich. Er wusste, dass die Berliner Satirezeitschrift dieses Namens seit einigen Jahren Hitler und die Nationalsozialisten mit bösen Karikaturen über die politische Linke unterstützte. Nein, es war viel ernsthafter. Er liebte sie und wollte sie gewinnen. Jetzt hatte er nach einem großen Schritt nach vorne wieder um zwei Schritte zurückweichen müssen. Um die Geschichte zu verarbeiten, schrieb er an den Onkel in Berlin und bat um Rat. Von dort bekam er die lakonische Antwort: „Mein Junge, es gibt noch mehr nette Frauen auf der Welt.“
Das war zwar zutreffend, befriedigte Karl aber nicht. Onkel Schröder mochte viel von der Zukunft der Arbeiterklasse verstehen, aber seine Menschenkenntnis und sein Einfühlungsvermögen in die Schicksale Einzelner waren offenbar nicht im gleichen Maße ausgeprägt. Karl musste alleine damit fertig werden. Mit dem sieben Jahre älteren Bruno mochte er nicht darüber reden.
Die vor sich hin dümpelnde sozialistische Studentengruppe brachte kaum Ablenkung und so gedachte Karl, sich intensiv in die Examensvorbereitung zu stürzen. Das Lernen fiel ihm schwer. Zu vieles ging ihm durch den Kopf, und die Zeiten waren auch nicht für einen Rückzug ins Private geeignet. Vor der Reichstagswahl im September würde die SPD jeden Helfer gebrauchen. Vielleicht konnte er sich hier verdient machen.
Die Regierung in Berlin hatte sich aufgrund der verschlechterten Finanzlage des Reiches gezwungen gesehen, Sparmaßnahmen