Der späte Besucher. Wolfgang Brylla. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolfgang Brylla
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742759900
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auf einem dreistufigen Podest und blickt zum Schweizer Ufer hinüber. Ihm vis à vis steht der „neue Leuchtturm“ von 1856 und zeigt den Booten die Einfahrt zum Hafen an. Albert ging weiter zum Lindavia-Brunnen und überquerte den Reichsplatz. Lindavia, wieder so eine Heilige und Beschützerin der Stadt. Sie steht dort Jahr um Jahr bei Sonne, Regen, Schnee und Sturm mit dem Lindenzweig in der Hand. Er versuchte, sich vorzustellen, wie das lebendige Modell zu dieser Figur ausgesehen haben mochte. War sie danach oder während der Arbeiten die Geliebte des Künstlers geworden?

      In Gedanken versunken ließ er die Umgebung auf sich wirken, wobei er planlos durch die Straßen und Gassen spazierte, bis der Abend nahte. Hier und dort kehrte er in einer Wirtschaft ein, um sich aufzuwärmen, trank dabei schnell ein Bier und ging weiter. Schließlich machte er sich leicht beschwipst von Glühwein, Bier und den Eindrücken der Stadt auf den Rückweg.

      Am späten Abend stand Albert mit den anderen Hotelbesuchern und den Besitzern am kalten Buffet. Er fühlte sich nicht wohl unter den Menschen, trank zu viel Wein und war schon mäßig betrunken, als der Jahreswechsel nahte. Um kurz vor Mitternacht machten sich alle, bewaffnet mit Raketen, Böllern und Sektflaschen, auf den Weg zum Seeufer. Es hatte wieder begonnen zu schneien und eine unberührte Schneeschicht verwandelte die Wiesen und Bäume in eine neuerliche Traumlandschaft. Die ersten Donnerschläge ungeduldiger Menschen hallten über das dunkle Wasser.

      Dann war es so weit. Feuerwerk überall, Sektkorken knallten, erleuchteter Himmel, Prost Neujahr, Glückwünsche und gute Vorsätze. Albert prostete mit und umarmte wildfremde Menschen. Er fühlte die Wärme der menschlichen Verbindung in dieser kalten Nacht. Das war angenehm und schön. Zu schön! Denn es machte ihm seine gut verborgene Einsamkeit nur noch schmerzhaft deutlicher. Daher zog es ihn allein an den See. Er ging, eine Flasche Sekt und ein Glas in der Hand, bis er eine ruhige Stelle fand.

      „Prost Albert, ich werde dich achten, dir beistehen und dich lieben", versprach er und hob das Glas. Er wusste nicht so recht, was er in diesem Augenblick tat oder was ihn dazu veranlasste. Er stand aufrecht und sagte laut: „Vom heutigen Tag übernehme ich die Verantwortung für mein Leben und alles, was darin ist. Ich nehme es an als meine eigene Schöpfung!" Dann hob er das Glas und hielt es mit ausgestrecktem Arm vor sich hin, sah die Schneeflocken, den dunklen See und verspätete Feuerwerksfontänen. Langsam und bewusst führte er das Glas an seine Lippen und ein unbestimmtes Wissen sagte ihm in diesem Moment, dass von dieser Nacht an vieles anders werden würde. Lächelnd leerte er sein Glas. Er stellte sich vor, wie es werden würde, im Einklang mit sich selbst zu leben. Abwechselnd fühlte er Wärme und Kraft in seinem Körper. Die Kälte um ihn herum nahm er kaum mehr wahr. Jetzt und hier war Albert sich selbst ganz nah. War das der Schlüssel für seine Zukunft?

      Doch dann vernahm er sogleich auch die Einwände in sich. „Wer bist du, dass du sowas glauben kannst. Da machst du dir doch wieder etwas vor. Stehst hier alleine voll von Alkohol und träumst. Morgen wachst du auf mit einem Kater und alles ist wie immer. Außerdem ging es doch bisher auch und du warst zufrieden, meistens jedenfalls, solange du Alkohol hattest. Willst du das verlassen, aufhören und ein Spießer werden? Und schau dir deinen Vater an. Glaubst du, dass es dir besser ergehen kann als ihm, du Spinner? Meinst du Schlaumeier etwa, dass dein zukünftiges Leben vorteilhafter werden kann als das bisherige? Willst du die alte Sicherheit aufgeben für etwas, was du nur erahnen kannst? Und wenn es schief geht? Wie soll das überhaupt sein, wenn du ein anderes Leben hast? So was wird einem doch nicht geschenkt. Da muss man was für tun, hart arbeiten an sich. Willst du das etwa, wo du es dir doch so schön einfach machen kannst?" Albert fühlte einen heftigen Widerstand gegen diese Selbstvorwürfe. So sollte es nicht weitergehen. Da konnte er sich auch gleich umbringen. Er stürzte ein weiteres Glas Sekt hinunter. Ja, vielleicht war das ja die Lösung. Er hatte den Gedanken schon oft gehabt, ihn aber jedes Mal wegen seiner Feigheit verworfen. Selbst dafür fehlte ihm der Mut. „Du Versager", hörte er wieder die Stimme in sich. Alte Ängste stiegen in ihm auf. Er hatte sein Leben wie einen Schutzwall um sich selbst gestaltet. Es waren die Erfahrungen seines Lebens, vor allem die aus seiner Kindheit, die ihn so hatten werden lassen. Er verstand, was die innere Revolte ausgelöst hatte und fragte sich, ob eine andere Zukunft überhaupt gut für ihn sei. Wer sollte ihn da noch beschützen. Wie würde er reagieren, wenn das Leben es wieder einmal schlecht mit ihm meinte? „Was ist das für ein Unsinn? Wie kann das Leben etwas meinen? Ich bin selbst mein Leben und deshalb bestimme ich auch, wie es ist", dachte er trotzig. „Reine Theorie", kam prompt die Antwort. „Hört sich schön an, bringt aber nichts. Am besten, du gehst schlafen und denkst nicht weiter daran." Nicht daran denken, wie sollte das gehen? Wie sollte er jetzt schlafen gehen? Dazu hätte er erfahrungsgemäß noch eine Flasche Sekt oder ein paar Flaschen Bier leer machen müssen. Doch etwas gänzlich Unbekanntes hatte sich in ihm breitgemacht. Es war ihm nicht fremd, seltsamerweise, nur bisher nicht gekannt. Er fasste in seine Manteltasche und hielt auf einmal den Skarabäus zwischen seinen Fingern. War er es? Wollte er ihm etwas sagen? Was hatte sein Traum damit zu tun? Zeigte dieser ihm, dass es nun an der Zeit für ein neues Leben war? Vielleicht war doch alles anders, als er bisher geglaubt hatte. Das beruhigte ihn für's Erste und wie eine geistige Explosion knallte der folgende Gedanke in seinen Kopf. „Bin ich nicht allein der Schöpfer meines Lebens?"

      Lange konnte er nichts denken. Er spürte das Gefühl von Kraft und Verbundenheit mit sich selbst. Wenn das jetzt so sein konnte, war sein Leben nicht vergebens gewesen. Dann hatte alles so sein müssen, damit er eines Tages dort ankommen konnte, wo er jetzt war.

      Er fühlte sich angenehm ruhig und kraftvoll, nicht euphorisch, nur ganz real. Dieses Jahr hatte verheißungsvoll begonnen und er wusste, dass er diese Chance nicht verpassen wollte. Die Chance, der Schöpfer seines Lebens zu werden.

      Ruhigen Schrittes ging er zurück zum Hotel, wo auch die anderen sich wieder eingefunden hatten. „Da ist er ja", hörte er einige rufen. „Wir dachten schon, wir müssten dich im See suchen gehen." Albert lachte: „Nicht nötig, ich habe gerade heimgefunden."

      Teil 2

      Und plötzlich weißt du:

      Es ist Zeit, etwas Neues zu beginnen

      und dem Zauber des Anfangs zu vertrauen.

      (Meister Eckhart)

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