Wolfgang Brylla
Der späte Besucher
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Inhaltsverzeichnis
Prolog
An einem nebelverhangenen Novemberabend stand er an der Eingangstüre des Hauses, in dessen Erdgeschoss meine Praxis liegt. Die Türglocke hatte mich aus meinen Gedanken aufschrecken lassen, in denen ich den Tag ausklingen ließ, denn ich erwartete niemanden mehr. Im gelblichen Licht der Außenbeleuchtung sah ich ihn vor der Türe stehen. Seinen Mantelkragen hatte er hochgeschlagen, so dass ich nur den oberen Teil des Gesichtes wahrnehmen konnte. Ohne zu überlegen, ob ich drücken sollte, betätigte ich den Türöffner. Warum, das kann ich bis heute nicht sagen. Ich weiß nur, dass es richtig war.
Als er den Flur zu meiner Praxis betreten hatte, meinte ich, den Mann wiederzuerkennen, ohne sein Gesicht zuordnen zu können. Aus strahlenden blauen Augen sah er mir offen ins Gesicht und sagte: „Danke, dass Sie mich hereinlassen. Draußen ist wirklich ein Sauwetter.“ Er machte eine Pause, als ich ihn mit einer Handbewegung einlud, einzutreten. Im Wartezimmer bot ich ihm an, seinen Mantel aufzuhängen und mir in meinen Coachingraum zu folgen. Auf dem Schreibtisch stand ein Glas Rotwein, welches ich mir zum Feierabend eingeschenkt hatte. Mit einem Lächeln nahm er es zur Kenntnis. Ich fragte ihn, ob er auch ein Glas trinken wolle, was er dankbar annahm. Ich kannte den Fremden nicht und lud ihn zu einem Glas meines besten Weines ein. Mir wurde vor mir selbst unheimlich. Wo sollte der Abend noch enden.
So hoben wir unsere Gläser, tranken einen Schluck und er begann mit einer ruhigen, tiefen Stimme zu mir zu sprechen: „Sie werden mich nicht mehr kennen und doch haben Sie etwas Großes für mich getan.“ Er machte eine Pause, als er meinen fragenden Blick bemerkte, und fuhr fort. „Sie haben mich vor langer Zeit einmal, als ich Sie hilfesuchend um ein Coaching gebeten hatte, zurückgewiesen. Nein, nicht zurückgewiesen in dem Sinne, dass Sie mir nicht helfen wollten,“ berichtigte er sich schnell, als er mein Unverständnis bemerkte. „Sie hatten mein Anliegen, mir zu sagen, was ich tun sollte, zurückgewiesen und mir klargemacht, dass ich das nur selber herausfinden könne. Sie würden mir nur helfen, meine eigenen Möglichkeiten zu finden. Damals war mir das Zuwenig. Ich verließ wütend Ihre Praxis, aber Ihre Worte hingen mir noch lange nach. Und dann habe ich getan, was Sie mir damals geraten hatten. Ich habe selbst herausgefunden, was mir hilft. Es war nicht leicht, doch jetzt bin ich so weit, dass ich weiß, wohin ich gehöre und wohin ich gehen werde. Ich war auf dem Weg, noch einmal alles Alte aufzusuchen und mich von dem Vergangenen zu verabschieden. So kam ich an Ihrem Hause vorbei. Als ich sah, dass noch Licht brannte, habe ich geschellt, ohne nachzudenken. Und jetzt sitze ich hier und verspüre das Verlangen, Ihnen zu berichten, was seitdem geschehen ist. Ist das nicht seltsam?“ Da konnte ich ihm nur zustimmen. Ich fand die ganze Situation äußerst seltsam aber auch irgendwie stimmig.
Vielleicht aus Verlegenheit hatte jeder von uns sein Glas viel zu schnell geleert. Ich war neugierig geworden und sagte es ihm. Nachdem ich unsere Gläser wieder gefüllt hatte, begann er zu erzählen. So saßen wir den ganzen Abend in den bequemen Sesseln, in denen ich sonst mit meinen Klienten an den Lösungen ihrer Probleme arbeitete, beisammen. Diesmal war ich nicht der Coach, sondern wurde immer mehr zum Schüler, der fasziniert den Lehren des Meisters lauscht. Dabei tranken wir Rotwein, bis die Flasche leer war und ich eine neue aus dem Keller holte.
Zu Beginn vertraute er mir an, dass er sicher sei, ohne seinen Besuch bei mir vor langer Zeit nicht zu dem geworden zu sein, der er nun war. Dann begann er, die ersten Schritte zu beschreiben, die ihn immer weiter ins Nichts zu führen schienen, ohne dass er zu diesem Zeitpunkt ahnte, dass sie ihn in eine neue Welt leiten würden und in ein Land, in das er nun für immer reisen würde.
Seit dieser Begegnung sind viele Tage ins Land gegangen und das neue Jahr hat begonnen. Endlich habe ich meinen Mut zusammengenommenen, um das aufzuschreiben, was ich in Erinnerung behalten habe. Mut deshalb, weil ich, schon während er bei mir saß, spürte, dass diese Geschichte allzu leicht meine eigene werden könnte.
So sitze ich hier, versuche, mich zu erinnern und schreibe, was mir mein Inneres preisgibt. Es ist die Geschichte von Albert, und es ist auch meine, denn zwischen dem, was er berichtete und dem, was jetzt zu Papier kommt, liegt die Erinnerung und die Fantasie meiner Gedanken.
Teil 1
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über