»Bodo, Bodo, sie sind da«.
Es war Ole, der genau registrierte, dass Bodo in seinen Gedanken weit weg war. Und er ahnte, woran Bodo in den letzten Minuten gedacht hatte.
Der Kutter war an der ersten Kiesbank angelangt. Als würde sich alles minutiös wiederholen, sprangen sechs Männer in braunen Overalls vom Kutter. Ohne Zögern gingen sie auf die Robbenjungen zu. Die Robbenjäger waren inzwischen aufgrund des Druckes der Tierschützer verpflichtet, die Tiere zunächst mit einem gezielten Schuss zu töten und anschließend mit der Hakapik die noch dünne Schädeldecke zu zertrümmern. Doch es fiel kein Schuss. Auch die geschützten Whitecoats wurden nicht verschont. Viele Leiber zuckten noch, als die Robbenjäger begannen, die Decke der Robben vom Körper zu lösen. Nein, sie hatten nichts dazu gelernt. Das waren nach wie vor seelenlose Schlächter.
»Der Dritte von links«, vernahm Bodo aus der Ohrmuschel. Er blickte durch das Fernglas. Ihm war, als ob der Mann direkt vor ihm stand. Er war älter geworden. Aber es war zweifellos der Bursche, welcher Ewald damals die Spitzhacke in den Bauch gerammt hatte. In diesem Moment wusste er: Diese Aktion war richtig und gerechtfertigt. Diese Aktion musste ausgeführt werden.
Kapitel 3
Während ein Robbenjäger die Felle auf einen Schlitten legte, um diese zum Kutter zu ziehen, stapften die anderen Männer zur zweiten Bucht.
»Schau dir das an. Das Robbenjunge ganz hinten rechts«, hörte Bodo Vincents Stimme. Bodo blickte wieder durch das starke Fernglas. Das zuerst niedergeschlagene Robbenjunge bewegte sich noch und hob den Kopf. Es rief nach seiner Mutter. Die Mutter erkannte das Klagen ihres Jungen. Sie kam näher und schnupperte an diesem lebendigen Kadaver. Sie erkannte ihr Junges nicht mehr. Der lebenswichtige Geruch war mit dem Fell verschwunden.
Auf der zweiten Kiesbank waren nur zwei Mütter mit ihren Jungen.
Die Robbenjäger erledigten rasch ihr Handwerk. Fünf Minuten später machten sie sich auf den Weg zur Kolonie genau gegenüber.
Jetzt waren sie nur noch dreihundert Meter entfernt. Sie legten eine Pause ein. Vier Jäger kramten aus einer Innentasche ihres Overalls Flachmänner hervor. Sie prosteten sich zu, tranken, lachten und machten offensichtlich Witze. Die Robbenmütter und ihre Jungen sahen keinen Grund, zu fliehen.
»Masken, Handschuhe«, zischte Amaro angewidert in das kleine Mikrofon.
Die Schützen hatten die Masken über der Stirn bereits in Position gebracht, und zogen diese nun nach unten.
Danach streiften sie rasch die weißen und dünnen Stoffhandschuhe über; ein gespenstisches Bild. Diesem Spuk dort drüben nicht sofort ein Ende zu bereiten, war ungemein schwer. Die Schützen mussten warten, bis auch der sechste Robbenjäger sich in Schussposition befand. Darüber hinaus war zuvor festgelegt worden, dass später die Ermittler – und hoffentlich auch Fotografen – das Gemetzel sehen würden, welches diese widerlichen Schlächter angerichtet hatten.
Bodo kannte das Geräusch sofort. Nur sechs bis sieben Meter neben ihm hatte sich in der Spitze einer Kiefer ein Vogel niedergelassen. Im Bruchteil einer Sekunde sah er, dass es sich um einen Tannenhäher handelte. Das Verhalten dieser Vogelart ähnelte denen der Eichelhäher. Dieses Vieh wird doch jetzt nicht anfangen Lärm zu schlagen, dachte er. Kaum schoss ihm dieser Gedanke durch den Kopf, hallte weithin das schnarrende »chrääh, chrääh, crääh«. So mancher Fuchs, Wolf oder Vielfraß musste aufgrund eines solchen Gezeters die Pirsch abbrechen. Alle Tiere waren im Umkreis von mehreren Kilometern gewarnt. Bodo starrte rasch durch das Fernglas.
Die Männer mit ihren Flachmännern dort drüben waren tatsächlich degenerierte Teufel, wie Akkilokipok sie Amaro gegenüber klassifizierte. Ein Blick zu Amaro, Christostomo und Ole verriet, dass diese Naturburschen in diesem Moment ähnlich dachten. Bei ihnen hätten angesichts der Rufe des Tannenhähers sofort die Alarmglocken schrillen müssen.
Bodo hörte das Tuckern des Kutters.
»Verdammt, wir haben doch nicht alles bis ins letzte Detail durchdacht«, schoss es durch seinen Kopf. »Der Kutter kann zumindest einen Teil des Schussfeldes verdecken.«
»Amaro. Amaro. Unser Schussfeld«, flüsterte er aufgeregt ins Mikrofon.
»Keine Sorge, der Kutter wird links außen anlanden«, war die ruhige Antwort. Und tatsächlich - der Kutter tuckerte vorbei, und fuhr links außen auf die Kiesbank.
Die fünf Robbenschlächter hatten ihre Flachmänner wieder verstaut, und begannen die Felle zum Rand der Kiesbank zu ziehen. Der sechste Mann kam nun mit dem Schlitten. Er war nur noch zwanzig Meter von der Gruppe entfernt. Die Schützen entsicherten die Gewehre, und warteten angespannt auf Amaros Kommando.
»Achtung … drei, zwei, eins, null.«
Bei »null« bellten die Schüsse auf. Der Abzug jedes Gewehres war auf den einzelnen Schützen eingestellt. Während Amaro den Bügel nur ganz leicht anzutippen brauchte, hatte er es für sinnvoll gehalten, den Druckpunkt bei Bodos Gewehr etwas strammer zu justieren. Der jeweils erste Schuss pro Mann war bereits tödlich. Ein Großteil der hinteren Schädeldecke wurde förmlich weggesprengt. Der zweite Schuss in den Kopf, der fast gleichzeitig abgegeben wurde, wäre nicht mehr notwendig gewesen. Die restlichen vier Schüsse auf die Oberkörper waren lediglich zur absoluten Sicherheit abzugeben. Amaro wollte nicht das kleinste Risiko eingehen. Die Schlussfolge war so rasch, dass die Robbenjäger erst nach dem letzten Schuss leicht nach hinten fielen – alle gleichzeitig.
Bereits fünf Sekunden später erfolgte das nächste Kommando von Amaro:
»Masken absetzen«.
Er löste damit einige Schützen, vor allem Bodo, aus einer Starre; gab ihnen keine Zeit nachzudenken. Fast automatisch streiften die Schützen ihre Masken nach oben. Alle weiteren Schritte waren am Tag zuvor mehrere Male einstudiert worden. Sie zogen die Kopfhörer ab und steckten diese zusammen mit dem dünnen Kabel in die linke Brusttasche des Overalls. Erst nachdem sie die weißen Fellmützen nach hinten geschoben hatten, konnten sie sich der Gesichtsmasken entledigen und diese wieder in die rechte Brusttasche des Overalls verschwinden zu lassen. Schweigend sammelten sie danach die ausgeworfenen Patronenhülsen ein.
»Alle Hülsen vollständig?«, fragte Amaro laut, und blickte jeden einzelnen Schützen an.
Die Schützen nickten.
»Leerpatronen, Ersatzmagazine und Handschuhe in die Seitentasche des Futterals. Reißverschluss zuziehen«, war das nächste Kommando. Nichts durfte später herausfallen. Darauf hätten sich Fingerabdrücke oder DNA-Spuren befinden können.
Die Männer verstauten ihre Gewehre in die Futterale. Amaro und Cristostomo übergaben ihre Futterale mit Inhalt an Bradly und Vincent. Während Bodo, Ole, Bradly und Vincent sich auf den Abstieg konzentrierten, begannen die beiden Indiandermischlinge mit zusammengebundenen fingerdicken Zweigen alle Spuren auf dem kleinen Plateau zu verwischen und hierbei noch einmal darauf zu achten, dass nicht die kleinste Kleinigkeit zurückblieb. Grob verwischten sie die Spuren beim Abstieg. Es war eine schweißtreibende Angelegenheit. Er denkt wie ein Indianer, hatte Amaro am Abend zuvor ehrfurchtsvoll von sich gegeben, als Bodo diesen Vorschlag unterbreitet hatte. Es sollten vor allem keine Abdrücke hinterlassen werden, aus denen die Anzahl der Personen und Gewicht pro Person, selbst für erfahrene Spurenleser, hervorgehen konnten. Und nur Indianer wussten, worauf es bei der Umsetzung dieses wichtigen Hinweises ankam.
Marco hatte den Motor des Kutters bereits angeworfen, so dass Bradly sofort das Boot übernehmen konnte. Amaro und Cristostomo waren erstaunlich rasch am Boot angelangt. Noch während die beiden Indianer