- Ingrid gab ihrer Nichte einen Kuss und nickte ihrem Neffen zu: Kommt erst einmal herein. Wir treffen uns in der großen Halle am Kamin. Ihr werdet müde sein von dem langen Flug. Wollt ihr euch erst etwas ausruhen und die Beine hochlegen?
- Nein, dazu habe ich jetzt nicht die Ruhe. Ich will mich nur ein wenig frisch machen und komme gleich zu euch. Gern nehme ich eine Tasse Kaffee.
- Hinrich hatte sich zurückgezogen. Er sagte, er müsste erst einmal einen Blick auf seinen Schreibtisch werfen. Tatsächlich erwartete er nichts von Bedeutung, aber er wollte für einen Augenblick allein sein.
- Wolfgang lässt sich entschuldigen, sagte Ingrid. Er fühlt sich noch ziemlich schwach. Eure Ankunft hat ihn ziemlich aufgeregt. Er wollte sich etwas hinlegen.
- Wie geht es ihm?, erkundigte sich Julia beunruhigt.
- Ingrid schenkte Kaffee in kleine Porzellantassen: Es geht so einigermaßen, aber er ist noch ziemlich schwach auf den Beinen. Er ist ständig in Behandlung, aber es geht nicht voran. Ich mache mir Sorgen. Er sollte sich mehr schonen und nicht mehr täglich ins Büro gehen. Aber er kann nicht loslassen.
- Er sollte einen Nachfolger suchen, sagte Julia.
- Das will er nicht. Er meint, er müsste die Firma erst wieder auf das richtige Gleis führen.
- Das könnte auch ein anderer tun, warf Julia ein.
- Ingrid blickte aus dem Fenster: Vielleicht. Aber er lässt sich nichts sagen.
- Er ändert sich nicht.
- Ingrid lenkte ab: Wie kommt ihr mit den klinischen Tests voran?
- Viel zu langsam und sehr mühsam.
- Die Berichte, die ich von euch bekommen habe deuten darauf hin, dass die Ursache der Krankheit wahrscheinlich an der Zuckerverarbeitung und möglicherweise auch an den Pestiziden zur Schädlingsbekämpfung liegt. Stimmt das? Habt ihr inzwischen die wirkliche Ursache der Niereninsuffizienz herausgefunden?
- Julia zögerte mit der Antwort: Nein, noch nicht richtig. Aber wir sind zufällig auf eine interessante Entdeckung gestoßen. Es gibt viele unterschiedliche Dahlienarten bei uns. Einige Pflanzen produzieren Inulin, eine Substanz, die den Menschen bei Verdauungsstörungen hilft. Die Azteken kannten ihre heilsame Wirkung und die anderer ätherischen Öle. Die Azteken haben den Kranken die geriebenen Knollen zum Verzehr gegeben. Das hat ihnen geholfen, ihre Darmflora zu stabilisieren. Diese Entdeckung hat uns auf eine neue Spur gebracht, der wir nun nachgehen. Wir müssen wieder die heilsamen Kräfte der Natur nutzen: Es sieht so aus, dass ein Zusammenhang zwischen der Zuckergewinnung und der Nieren-Krankheit besteht. Es scheint zu einer Verdauungsstörung zu kommen. Über den genauen Wirkungszusammenhang tappen wir noch im Dunkeln. Die Inhaber der Plantage unterdrücken alle sachdienlichen Informationen. Sie fürchten eine Klagewelle der Geschädigten. Aber irgendwann wird die volle Wahrheit ans Tageslicht kommen. Wir werden ihnen helfen, Gerechtigkeit zu erlangen, so hoffe ich wenigstens.
- Sei vorsichtig. Es ist nicht günstig, die mächtigen Konzerne zum Feind zu haben. Sie stecken alle mit der Drogenmaffia unter einer Decke. Man hört hier so einiges. Sie schrecken vor nichts zurück. Es soll wiederholt zu Morden gekommen sein, wenn ihnen jemand in die Quere kommt.
- Wir passen sehr gut auf und fahren nie allein übers Land. Wir haben viele Freunde in der Bevölkerung. Einige betrachten uns fast als ihre vom Himmel gesandten Retter. Sie warnen uns, wenn uns Gefahr droht.
- Du hast mir ein Bild von einem jungen Mann geschickt, sagte Ingrid. Er sieht wirklich gut aus. Offenbar unternehmt ihr viel gemeinsam und macht Ausflüge an die Pazifikküste.
- Ja, das ist Michel. Wir arbeiten sehr gut zusammen. Er ist ein verlässlicher Mann. Er ist für die Organisation, Durchführung und Überwachung der klinischen Tests zuständig. Er macht die statistischen Auswertungen.
-Verfasst er die Testberichte?
- Ja, das ist seine Aufgabe. Natürlich hat er Hilfskräfte zu seiner Verfügung.
- Kontrollierst du seine Berichte?
- Meistens. Nicht immer habe ich die Zeit. Michel macht das weitgehend allein.
- Ingrid zögerte einen Augenblick, als sei sie sich nicht sicher, ob sie das Thema weiter besprechen sollte: Ein Mitarbeiter sagte mir neulich, dass eure Berichte nicht immer vollständig seien. Es fehle die zeitnahe Dokumentation der an die Probanden verabreichten Substanzen und der medizinischen Befunde.
- Ich kann mich nicht um alles kümmern. Aber ich werde mir die Berichte künftig genauer ansehen.
- Das solltest du unbedingt tun, denn kürzlich erhielt ich eine Mitteilung, dass es besonders während der letzten Tests zu mehreren Todesfällen gekommen sein soll.
- Ja, das stimmt, wir hatten in der Tat einige Todesfälle zu beklagen, aber Geburt und Sterben ist dort allgegenwärtig. Es regt sich niemand darüber auf.
In diesem Augenblick kam der Patriarch herein, der offenbar die letzten Sätze gehört hatte, und setzte sich in seinen gewohnten Sessel mit der hohen Rückenlehne.
- Ich vernehme, ihr seid mitten an einem kritischen Punkt angelangt. Offenbar geht es um die außergewöhnlich hohe Sterberate bei euren klinischen Test. Das Thema beunruhigt uns hier sehr. Du solltest das nicht auf die leichte Schulter nehmen. Es kann hier zu einer offiziellen Untersuchung kommen, und dann hängen auch wir mitten drin, denn die Medikamente stammen ausschließlich von uns, soweit ich weiß.
- Das ist so. Wir beziehen die Substanzen nur aus unserem Münchener Werk.
- Hinrich wird dir gesagt haben, dass wir seit ein paar Wochen Probleme in der Abfüllstation haben. Einige Automaten sind durch einen Brand in der Lager- und Versandhalle ausgefallen.
- Er hat mir nur kurz berichtet, dass es zu Schwierigkeiten in der Produktion gekommen sei. Die Belieferung der Kunden sei aber nicht ernsthaft gestört. Mehr weiß ich nicht.
- So einfach ist es nicht, sagte Wolfgang sichtlich irritiert. Im Gegenteil: Wir haben erhebliche Lieferprobleme. Wir warten noch auf die neuen Automaten. Die haben lange Lieferzeiten. Hinrich lässt das alles viel zu lange schleifen. Er setzt sich nicht energisch genug für die Firma ein. Er beschäftigt sich viel zu sehr mit anderen Dingen.
- Julia fühlte sich verunsichert. Hoffentlich ist es nicht zu Fehlchargen gekommen. Wir vertrauen auf die einwandfreie Qualität der gelieferten Substanzen. Wir haben keine Möglichkeiten, alle Lieferungen lückenlos zu untersuchen.
- Ich wünschte, dass du hier bei uns bliebest, sagte Wolfgang. Hier warten große Aufgaben auf dich. Wir brauchen dich hier dringend. Die Probleme wachsen mir über den Kopf. Ich bin zu alt für die Leitung der Firmengruppe und brauche dringend einen Nachfolger. So ein Mann ist schwer zu finden. Es muss eine erfahrene und vertrauenswürdige Person sein, die mit der Branche vertraut ist. Du kennst dich aus, und ich habe Vertrauen zu dir.
- Du hast Hinrich hier zu deiner Verfügung. In Nicaragua ist keiner, der mich ersetzen kann. Die Menschen vertrauen mir. Sie brauchen mich.
- Auch hier wirst du gebraucht.
- Ihr werdet schon den richtigen Nachfolger finden, sagte sie, als sie sich erhob: Ich will mich noch etwas zurechtmachen. Sie verabschiedete sich und zog sich in ihr Zimmer im oberen Stockwerk zurück. Irgendwo hörte sie Hinrich Klavier spielen. Die Töne schienen aus seinem Zimmer zu kommen. Offenbar probte er den langsamen Satz aus dem Doppelkonzert von Brahms.
Sie war beunruhigt über die Tatsache, dass ihr Vater über die unerklärlichen Todesfälle während der klinischen Tests in ihrem Bereich so genau Bescheid wusste. Wie war die Information dorthin gelangt? Sie hatte versucht, die Information nur in den eigenen Reihen zu halten. Sie wollte ihren Bruder dazu befragen. Er würde ihr Antwort geben müssen. Sie brauchte Klarheit. Sie hätte ihn zur Rede stellen müssen, aber nicht jetzt. Jetzt wollte sie keinen Konflikt mit ihrem Bruder vor allem nicht vor dem Konzert. Im Augenblick hatten sie Wichtigeres zu tun.
- Störe ich dich beim Üben?, fragte sie als sie sein Zimmer betrat.