Eine Woche später ging er zum Friseur und kam mit einer extra kurzen Stoppelfrisur wieder heraus, auch der Schnurrbart war ab. Kalle aus der Nachbar-WG fragte ihn eine Woche später, wo denn der Typ mit den langen Haaren sei, ob er schon wieder ausgezogen wäre. „Mensch Kalle, ich bin’s, Tristan, kennst du mich nicht wieder?“ Erst da erkannte er ihn. Die Wandlung war perfekt. Der neue Lebensabschnitt konnte beginnen.
Die erste gemeinsame Aktion war die Neugestaltung der gesamten Wohnung, Sie waren die einzigen in der ganzen Fabrik, die New Wave und Punk hörten, in allen anderen Etagen saß man noch auf plüschiges Sofas und hörte the Mamas and the Papas. Sie kauften jede Menge weiße Farbe und Neonröhren und strichen alles, was nur zu streichen war in blendendem Weiß. Die normalen Lampen flogen raus und wurden durch Neonlampen ersetzt. Das Ganze endete in einem Happening, wonach sie auch alle weiß waren. Das sprach sich natürlich rum, und in den folgenden Tagen waren sie zur Besichtigung freigegeben. Die meisten fanden es kahl, kalt, ungemütlich. Die Bewohner aber fanden es toll und fühlten sich genau im richtigen Zeitgeist. Sie waren nun die Exoten in der Fabrik.
Susanne aus der WG war Filmerin. Sie hatte ihre ersten Kurzfilme bei der Filmhochschule München gedreht und arbeitete nun als Regieassistentin in einigen deutschen und französischen Filmen. So kam es, dass die gesamte WG als Komparsen bei „Frau Jenny Treibel“ und „Die Spaziergängerin von Sans-Sousi“ dabei war.
Ende Oktober trat Tristan für drei Tage bei den Dreharbeiten zu der „Spaziergängerin“ als Komparse auf. Er fuhr morgens auf seiner XT zu den Filmstudios von CCC in Spandau. Am ersten Tag sollte er um 13 Uhr anwesend sein. Er wurde eingekleidet und geschminkt und schaute dann nur den Dreharbeiten zu. Um 18 Uhr hatte er dann eine kleine Szene: Ein Animiermädchen zog ihn an der Kamera vorbei auf die Tanzfläche, wo sie mit anderen dicht gedrängt rumtanzten.
Am nächsten Tag wurde er zweimal gebraucht, einmal stand er nur an der Tanzfläche und schaute den Tanzenden zu, und das andere Mal tanzte er mit dem Animiermädchen neben dem Hauptpaar und hatte die Hoffnung, dass diese Szene später nicht herausgeschnitten wird. Am dritten Tag machte er eine tolle Erfahrung. Er stand mit seiner Tanzpartnerin am Rand der Tanzfläche und sah zu wie Romy Schneider und Mathieu Carrière sich auf ihre Szene an einem Bistrotisch vorbereiteten. Eigentlich taten sie überhaupt nichts dafür. Sie unterhielten sich, rauchten eine Zigarette nach der anderen, aber als die erste Klappe fiel, war Romy von einer auf die andere Sekunde im Dreh. Sie schlug augenblicklich mit der Hand auf den Tisch und schrie Gérard an. So eine professionelle Wandlung von einem Moment zum anderen hatte Tristan noch nicht gesehen, und später, als die Dreharbeiten abgeschlossen waren, lief er durch einen Gang, als Romy ihm entgegenkam, glücklich strahlend, ihn umarmte und einen Kuss auf die Wange gab und sagte „Ach, das war jetzt gut“ und dann einfach weiter ging. Es gab nicht viele solche glücklichen Momente bei Romy. Manchmal musste man die Dreharbeiten unterbrechen, weil sie anfing zu weinen, vor allem bei Szenen mit ihrem Jungen, die sie natürlich an ihr eigenes Schicksal erinnerten.
An diesem Tag bekam Tristan den Lohn für seine drei Drehtage: 240,- DM, immerhin, dafür hatte er sich drei Tage Urlaub geholt.
Einige Wochen später feierten sie in ihrer Fabriketage das Bergfest, das man veranstaltet, wenn die Hälfte der Dreharbeiten geschafft ist. Es war ein riesiges Fest. Alle Schauspieler waren da, selbst Jacques Rouffio, der Regisseur war anwesend, nur Romy fehlte. Sie kam dann doch noch, aber sehr spät. Sie hatte ihren Fahrer durch die ganze Stadt gejagt, um vermeintliche Papparazzi abzuschütteln und saß nun da, völlig abwesend. Am nächsten Tag sagte ihnen ein Gast, er habe auf der Fete einen Transvestiten gesehen, der aussah wie Romy Schneider!
Rachel von der WG über ihnen war nun öfter bei ihnen zu Besuch, weil sie Susanne bei der Beschaffung von Requisiten half.
Rachel trug ihren Namen mit Würde, obwohl er aus dem hebräischen kam und „Mutterschaf“ hieß. Sie konnte auch nicht sagen, warum ihre Eltern ausgerechnet diesen biblischen Namen gaben, obwohl sie gar nicht gläubig waren, und außerdem wollte sie den Namen mit „ch“ wie Drachen ausgesprochen hören, was auf Dauer kaum durchsetzbar war, weil die meisten Leute nach kurzer Zeit zu der englischen Aussprache übergingen.
Sie war dabei, wenn sie ins Kino gingen, vorzugsweise ins Arsenal in der Welserstraße, das gute Autorenfilme und manchmal sogar Kurzfilme von Susanne zeigte, oder ins Kant Kino, wo sie den legendären Auftritt von „Ideal“ erlebten. Das war ein Muss, weil Ideal genau das neue New Wave Gefühl verkörperte, dass sich ihre WG angeeignet hatte, weil im Song „Berlin“ ihr geliebter Dschungel vorkam, und weil sie sich immer vorstellten, dass es sich bei der alten Fabrik im Song um ihre Fabrik handelte. Sie sonnten sich im Sommer oft auf dem Dach und hatten dort tatsächlich den Ost-West-Überblick.
Bahnhof Zoo, mein Zug fährt ein,