Auf der Suche nach dem idealen Ort. Manfred J. Reichard. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Manfred J. Reichard
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738056846
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You must forgive me my unworthiness.

       Bob Dylan, Desire, 1976, 5:30

      Sarah lernte er im Dezember im Spectrum kennen, einem Kneipenkollektiv im Mehringhof, das als Anlaufstelle für alle Demos und Hausbesetzungen diente, die zu der Zeit in vollem Gange waren. Sarah hatte eine stark ausgeprägte Hakennase, was ihr etwas „zigeunerisches“ verlieh. Damals konnte man diese Bezeichnung noch sagen, ohne sofort auf das heftigste angemacht zu werden. Sie kiffte gern und trank gerne Rotwein, was genau auch seine Richtung war. Sie gingen gleich am ersten Abend noch im Tiergarten im Schnee spazieren, legten sich nebeneinander mit dem Rücken in den Schnee, machten mit Armen und Beinen solche Wischbewegungen, dass es aussah, als sie es danach von oben betrachteten, wie zwei Engel im Gewand und mit Flügeln. Danach landeten sie gleich bei ihr, in einer sehr kleinen dunklen Wohnung, vollgestellt mit zig Eulenfiguren in allen erdenklichen Formen, Materialien und Größen. Sie hatte die Angewohnheit, beim Sex lauter kleine Wimmer- und Seufzertöne von sich zu geben, was ihn tierisch anmachte. Sie waren beide vom ersten Augenblick an heftig ineinander verknallt.

      Während er die Karotten schälte und in Scheiben schnitt, antwortete er bereitwillig auf Susannes Fragen. Ja, er hat einen Job, als Ingenieur bei Siemens, und das schon seit acht Jahren. Das hörte Christian, der die Unterhaltung mit Tim führte, „ dann wäre ich wenigstens morgen nicht der Einzige, der so früh raus muss, ich arbeite als freier Mitarbeiter beim Spandauer Volksblatt.“ „Ok, aber ich bin morgens ziemlich maulfaul. Will nur in Ruhe meine Zeitung lesen“ „Genauso ähnlich habe ich mir das vorgestellt“ Die Unterhaltung ging hin und her, jeder redete mal mit jedem. Das Essen gelang, man saß noch gemütlich in der Runde, aber nach zwei Stunden wurden sie dann freundlich aber bestimmt verabschiedet. Man würde sich dann morgen melden.

      Zu einer Zeit, als es noch keine Handys gab, war der folgende Tag ein Martyrium für ihn. Er saß immer in Reichweite des Telefons, das auf einer Anrichte im Flur stand. Endlich dann das Läuten. Beate eröffnete ihm, er soll am Abend noch mal vorbeikommen, aber bitte ohne Sarah.

      Susanne eröffnete sofort das Gespräch. Bei der ersten Vorstellung war sie die einzige, die gegen ihn gestimmt hatte. Er hatte so eine für sie unerträgliche Machoart in seiner abgewetzten Lederjacke. Sein Auftreten war sehr dominant, und sie hatte das Gefühl, dass er wenig gemeinschaftsfähig sei, aber gestern hat sie dann ihre Meinung geändert. Sie war sehr eingenommen von der Art und Weise, wie er mit Sarah umging, und sie hatte das Gefühl, dass Sarah die Hosen anhatte, und ihn das in keiner Weise stören würde. Er sei also einstimmig angenommen.

      Schon am darauffolgenden Wochenende erfüllte sich ein sehr lang gehegter Wunsch. Er hatte allen Ballast hinter sich gelassen, all die überflüssigen und bürgerlichen Möbel und Gegenstände. Alles, was er nun besaß passte in einen Ford Transit.

      Am Samstag, den 10. Januar 1981 hielt er, Tristan Riemenschneider, Ingenieur bei Siemens, 32 Jahre, 2 Monate und 23 Tage alt, Einzug ins Paradies.

      Die Vorstellung

      Christian war sichtlich genervt. Den ganzen Tag gaben sich die Typen im Stundentakt die Klinke in die Hand. Nun war es 20 Uhr. Der letzte Aspirant klopfte zögerlich an die Tür. Wie soll das jemand hören, wenn Alle auf ihren Zimmern sind. Die haben alle keine Ahnung. Er erhob sich schwerfällig und öffnete die Tür.

      Vor ihm stand ein Typ, 501er Levis, schwarzer Rollkragenpullover, total verschlissene, alte Lederjacke, aber das schlimmste war der Kopf. Der Typ trug einen dünnen Schnurrbart und die Haare mit fürchterlich kleinen Locken. Da musste er ihn nachher mal drauf ansprechen. Außerdem trug er am linken Ohr einen Ohrring, eigentlich war es mehr ein Gehänge mit vielen kleinen bunten Glaskügelchen, die fast bis an die Schulter reichten, wahrscheinlich aus einem dieser billigen India-Läden. Das machte Christian immer schmerzlich bewusst, dass er seinen Ohrring, der eigentlich nur ein kleiner Silberknopf war, irrtümlicherweise am rechten Ohr trug, was gemeinhin als die schwule Seite galt. Aber er ertrug das mittlerweile mit stoischer Miene und stellte Gelassenheit zur Schau.

      Was eines von Christians Lieblingsthemen war, sprach er ziemlich bald an. „Wir sind hier zwar ganz gut an die U-Bahn angeschlossen, aber hast du auch einen fahrbaren Untersatz?“ Das war genau das Thema, über das Tristan so richtig ins Schwärmen kommen konnte, und es turnte ihn so richtig an, weil er sofort spürte, dass sein Gegenüber gleich genau so begeistert sein würde. „ Ich fahre eine DS, eigentlich ist es ein ID19, aber die wenigsten wissen, dass das nur die abgespeckte Version der DS ist, ohne Halbautomatik und Bremsknopf“ Es war trotzdem seine Déesse, seine Göttin, und wenn er hinterm Steuer saß, fühlte er sich wie im 7. Himmel.

      Christians Gesicht hellte sich auf. „Stimmt es, dass es für dieses Auto gar keinen Wagenheber gibt?“ „Richtig, Du fährst die Karosserie hydropneumatisch ganz nach oben, klemmst einen Stab unter die Karosse und fährst sie dann ganz nach unten. Da das jetzt aber nicht mehr geht, hebt sich das betreffende Rad nach oben, und du kannst es ganz bequem wechseln“ „Wahnsinn“ „Als der Wagen 1955 als Nachfolger des Traction Avant, der sogenannten Gangsterlimousine herauskam, sagten alle, dass dieses Auto viel zu futuristisch sei. Citroën antwortete, dass die DS von Heute ist. Alle anderen sind von Gestern!“ Diesen Spruch sagt Tristan besonders gern, denn er rief immer wieder zustimmendes Nicken hervor.

      „Ich habe aber auch gerade den Einser gemacht, und im Hof steht schon meine XT. Die soll mit ihrem Stollenprofil gut wintertauglich sein. Werde versuchen, jetzt auch mit ihr zur Arbeit zu fahren.“ Das war der 2. Fisch am Haken. Die XT war eine Yamaha XT 500, ein neuartiger Motorradtyp, der sich Enduro nannte, im Grunde eine Moto Cross-Maschine, die durch ihre Leistungsstärke und Robustheit auch für längere Reisen mit Gepäck geeignet war. Unter Kennern nannte man dieses „Moped“ auch einen halben Liter Eintopf, weil der Motor aus einem einzigen Zylinder mit 500 ccm bestand. Außerdem hatte sie nur einen Kickstarter. Man musste mit Hilfe eines Ventilanhebers den Kolben in den oberen Totpunkt schieben, damit man mit einem einzigen Kick den Motor anwerfen konnte. Wer das nicht wusste, und das hat Tristan des öfteren auf gemeine Art geschehen lassen, wurde von dem Rückschlag des Kickstarters regelrecht in die Luft katapultiert.

      Christian geriet fast aus dem Häuschen. „Da musst du mich unbedingt mal mitnehmen. Wir haben viele Motorradfahrer hier in der Fabrik. Da kann ich mir einen Helm ausleihen“

      Die Sache war gelaufen. Christian nahm seinen Stift und setzte Tristans Namen ganz nach oben auf die Liste der Aspiranten. So kam es, dass Tristan eingeladen wurde, und dass Christian und Tristan im Herbst 1982 auf der XT zur documenta 7 nach Kassel fuhren und dort, erschöpft von den höllischen Vibrationen der XT, aber selig glücklich bei herrlichem Sonnenschein neben Joseph Beuys auf den Basaltstelen vor dem Fridericianum saßen. Aber das ist eine andere Geschichte.

      new life, new style, new wave

      Es war für ihn ein Umbruch auf allen Ebenen. Er kam aus einer gescheiterten Ehe, und das Umfeld war recht spießbürgerlich. Man hatte sich mit anderen Paaren getroffen, auf ein Glas Wein, oder, wenn es festlich wurde, zum Fondue. Die 3-Zimmer-Altbauwohnung war in warmen Holztönen eingerichtet, und die Küche mit einer Weinrankentapete und gemütlichem Korblampenschirm ausgestattet. Der 1. Schritt zu einem Umbruch war, dass sie die Wohnung von der klassischen Wohnzimmer-Schlafzimmer-Küche-Aufteilung in jeweils einen Raum für ihn und einen Raum für sie und einem Gemeinschaftsraum umräumte.

      Das Ganze bekam dann irgendwann ein Eigenleben. Jeder orientierte sich zusätzlich außerhalb, was dazu führte, dass man zum Frühstück entweder allein, zu zweit, zu dritt oder zu viert saß, wobei die Drei als Zahl die Unerquicklichste waren.

      Nun lebte er in einem halb offenen Raum in dieser Fabrikhalle, um den nur eine ein Meter achtzig hohe Ytong Mauer stand, damit der Bewohner des letzten Raums an seinem Zimmer vorbei kam. Am ersten Abend kamen alle seine Mitbewohner in sein Zimmer, um seinen Einzug zu feiern, bei Sekt und jede Menge Joints begutachteten diese seine Einrichtung: Ein selbstgebautes Hochbett, eine alte Glasvitrine, eine Matratze und eine Braun Stereoanlage mit seiner legendären Tonbandmaschine TG 1000. Sie würde demnächst nur noch dazu dienen, nachts beim BFBS die neuesten Punk- und