„Ich habe verstanden, was du meinst.“ Omar nickt. Wie ein reifer, alter Mann schaut er aus. „Ich habe mich geändert", erklärt der reife Mann. „Du wirst es noch sehen.“ Beschämt schaut er zu Boden.
„Ich war so allein, verdammt allein, mit dieser Erfahrung zwischen uns beiden. Kein europäischer Mann konnte mir diese Nähe geben, wie ich sie mit dir erlebte. Keiner meiner Freunde kannte die Erfahrung, zwei Welten in sich zu tragen, und diese irgendwie vereinen zu müssen, um die innere Anspannung auszuhalten. Hätte ich dich nicht kennen gelernt, hätte ich diese Einsamkeit und Bitterkeit nie so stark empfunden. Und du warst nicht da. Während ich immer für dich da war, wenn es Probleme gab.“ Wieder schüttelt Esthes den Kopf. Dann wendet sie sich wieder Omars Augen zu. Ganz langsam hebt er seinen Kopf und gibt sie ihr. Sie sind traurig, betroffen und warm. Keine Notwendigkeit, seine Gefühle zu verstecken. Auch Esthes Wärme ist wieder da. Sie hatte vergessen, dass es so etwas für sie gegeben hatte. Die Wärme von Omars Augen verteilt sich in ihr. Auch damit hatte sie nicht gerechnet. Es ist noch wie damals. Er brauchte sie nur anzuschauen und dieses Wärmegefühl durchdrang jede Pore.
„Das habe ich nun auch verstanden. Du warst am Telefon immer so distanziert, und dann musste ich den Grund finden, den es dafür geben könnte. Erst als ich dich so sehr vermisst hatte, dass es mir wehtat, konnte ich verstehen, was passiert war. Es war plötzlich ganz deutlich, dass du so viel für meine Familie an Unterstützung gegeben hast. Und ich wusste auch, dass ich es dir nie gesagt hatte.“ Omar runzelt die Stirn, wie er es immer tut, wenn er mit sich nicht einverstanden ist.
„Es tut mir leid, ich habe es einfach hingenommen und mich wie ein Sieger dabei gefühlt, ohne etwas dafür getan zu haben. Dann war es zu spät gewesen. Du hast dir meine Anrufe verbeten und bist bereits auf Distanz gegangen", murmelt er. Esthes Körper zuckt. Sie will näher zu ihm, ihn berühren. Sie sieht den Ruck in Omars Armen. Doch er bleibt sitzen, obwohl sich mittlerweile auch der traditionsgebundene Beduine nicht mehr von seiner redseligen Dorfgemeinschaft beeinträchtigen lässt, die eine Berührung zwischen Mann und Frau in der Öffentlichkeit nicht duldet.
Wie oft hatte Esthes zu Beginn ihrer Beziehung die Worte gehört, wo denkst du hin, du kannst doch nicht ohne Kopftuch mit mir zu einer bekannten Familie gehen, mich in aller Öffentlichkeit berühren, die anderen Guides auf die Wange küssen, meine Schwestern europäisch umarmen, mit in meinem Bett schlafen wollen... Viel Geduld hatte sie es gekostet, sich nach und nach diese europäischen Privilegien zu holen, ohne den Respekt der Beduinen zu verlieren. Wie selbstverständlich ging damals der Freund aus einer anderen Kultur davon aus, dass sich die Europäerin an die traditionellen Spielregeln halten muss. Sie habe sich ja auf eine Freundschaft mit einem Beduinen eingelassen. Aber nach und nach hatte die kluge Frau verständlich machen können, dass sie bereits ihre Gabe der Anpassung geleistet hatte, indem sie in seinem Dorf aus- und einging, auf dem Boden aß, sich an das Klima und die Nahrung gewöhnt, auf jeden Komfort an seiner Seite verzichtete, und dass er jetzt damit an der Reihe sei. Ja, das war ihr gelungen. Sie konnte an seiner Seite Europäerin sein. Seine leuchtenden Augen in den Situationen, wo sie nicht verzichtet hatte, verrieten, dass er sie für ihre Hartnäckigkeit auch bewunderte.
Aber jetzt würde Omar mit seiner Scham nicht näher an sie heranrutschen. Esthes spricht bewusst ein wenig leiser, damit er sich in ihre Richtung beugen muss, um sie zu verstehen.
„Weshalb erst so spät? Das hat so wehgetan!“ Esthes hört ihren Namen. Sie wendet sich ab. Karla und Ria kommen. Sie brauchen Kompetenz in Sachen Gewürze. Das Gespräch ist vorbei.
Omars Familienmitglieder leben in einfachen Hütten, die ein kleines Fort im Sand bilden. Als die Reisegruppe in den Sandhof einbiegt, sich der vertraute Anblick des Miteinanders von Mensch und Tier zeigt, ist die Weite in Esthes Herzen zurückgekehrt. Hühner und Truthähne verstreuen sich über den Hof, hinter Palmenwedeln, die in den Sand gesteckt wurden, sind ein paar Ziegen zu sehen. Der Hund an seiner langen Kordel läuft aufgeregt hin und her. Esthes Herz hüpft, freut sich und fühlt sich wohl.
Alles ist wieder wie damals. Die vielen Nächte auf dem engen Klappbett in der Hitze des Sommers vor Omars Hütte. Ohne Decke, eng umschlungen, obwohl verboten. Die gemeinsamen Essen im Kreise der Familie, als ihr von der Mutter mit den blanken Fingern, die besten Brocken zugeschoben wurden. Der alte Lappen, mit dem das Geschirr gespült wurde, den alle Familienmitglieder zum Hände Waschen nutzen und nach dem Essen den Mund daran abwischten.
Auch das erste Mal, als sie hierher kam und von all dieser Armut so schockiert war, ist Esthes wieder in Erinnerung. Omar hatte sie mit ein paar Freunden mit einem geliehenen Auto vom Flughafen abgeholt. Sie waren den ganzen Tag unterwegs. Omar und Esthes konnten nicht allein sein. Endlich am Abend saßen sie beide auf dem Boden in Omars Hütte, die durch das Licht der Kerzen erleuchtet wurde, die die Europäerin mitgebracht hatte. Der Beduine hatte seinen Tsheshhat 3) um den Kopf geschlungen und lag langbeinig auf einem einfach gewebten Teppich, der seitlich ausfranste. Die müde Frau saß im Schneidersitz daneben. Stühle oder gar ein Sofa gab es nicht, in keiner der Hütten der Beduinen. Sie aßen aus einer Schüssel Couscous. Alles war still. Die Aufregungen des Tages waren abgeklungen und nur noch die blanke Begegnung einer ehemaligen Touristin mit einem Mann, der sehr arm war, erfüllte den Raum. Wenn sie einer ihrer Freunde so hätte sehen könnte, hätte er Esthes für verrückt gehalten. Damals wusste sie selbst nicht, ob sie es war. War sie einer erotischen Stimmung gefolgt? Der neuen Variante der Befriedung durch Naturburschen und orientalischer Sinnlichkeit? Oder war es etwas anderes, was sie damals vor sieben Jahren hier suchte. Die einzige Möglichkeit, es herauszufinden, war, sich darauf einzulassen, sonst hätte sie es in ihrer letzten Lebensstunde bereut. Und so saß sie voller Scham, innerer Erregung, Sehnsucht hin zu diesem Mann und missbilligender Selbstbeobachtung in seiner Hütte und hoffte nur, dass dieses Abenteuer gut ausgehen würde.
Alles ist wieder da, ist wieder Wahrheit und kein verschwommenes Märchenbild aus einem Film, in dem Esthes irgendwie mitgespielt hatte.
3) Tsheshhat: Langes Baumwolltuch, das als Sand- und Sonnenschutz turbanartig um den Kopf geschlungen wird.
Auch Großmutter und Mabruka sind wieder da. Esthes sieht sie noch einmal im Sand vor ihrer Hütte sitzen. Großmutter gibt ihrem jüngsten Enkel einen liebevollen Klaps auf den nackten, runden, braunen Po. Mabruka zeigt ihr strahlendes Lächeln, während sie im Sand auf offenem Feuer einen Kaffee für Esthes zubereitet. Und sie plaudern auf Arabisch, das Esthes eigentlich gar nicht kann. Es ist kein Traum. Das findet wirklich statt. Es ist tatsächlich sie, die da im Sand auf dem Boden sitzt mit unzähligen Fliegen auf ihrem Körper und mit den anderen Frauen schäkert und sich mögen läßt, als ob sie immer schon dort gewesen wäre.
Esthes Blick fällt auf die Hütte von Mabruka und Großmutter. Die Fensteröffnungen sind zugemauert.
„Wegen des Sands", sagt Omar leise. Mabruka ging nach dem Tod der Großmutter weg, heiratete gegen Omars Rat einen sehr alten Mann. Sie hielt den Schmerz, ohne die geliebte Großmutter hier weiter zu leben, nicht aus. Mabruka hatte keine Ausbildung, war noch ganz ein Kind der Wüste und begleitete auch später immer wieder die Großmutter zu ihrem Wintercamp. Es gibt Esthes innerlich einen Stich die vermauerten Fenster zu sehen. Ob Mabruka mit diesem Mann glücklich ist, wenn sogar Omar abgeraten hatte? Wie mag ihre sexuelle Beziehung aussehen?
Die Schwestern und die Eltern werden den Frauen vorgestellt. Die Brüder sind nicht da. Iamna, die Älteste, die noch im Hause lebt, ist verhalten. Macht die alte Freundschaft zwischen ihr und Esthes nur diese kühle Begrüßung möglich? Gibt man Esthes die Schuld für die Zeit, in der sie nicht da war? Fatima und Hamed, Omars Eltern, wirken ebenfalls distanziert.
Die Frauen lagern auf dem Boden der Veranda, oder an dem Platz, den man wohlwollend so nennen kann. Kein Tee, wie sonst. Okay, es ist Ramadan, aber Omars Familie hatte bisher akzeptiert, dass Christen auch während des Ramadans essen und trinken. Esthes setzt sich zu den Frauen und erklärt die Zusammenhänge verwandtschaftlicher Beziehungen der Großfamilie.
Ihr fällt ein, dass sie ihre Kleidung für die Wüste immer bei Omar gelassen hatte. Sie fragt Omar, ob sie