Auch die Erinnerung an den Schafhirten ist wieder da, der plötzlich bei ihrem Lager auftauchte. Omar hatte schnell sein Tshesh auf ihre mittlerweile aufgedeckten Brüste gelegt. Er hatte sich erhoben, um den Hirten zu begrüßen. Esthes hatte wohl eine Stunde lang in ihrer Stellung unter dem Tuch verharrt und sich schlafend gegeben. Die beiden Männer saßen am Rande des Schattens und unterhielten sich in der fremden Sprache. Sie weiß noch genau um diese wache Erregung, in der sie die Sommerhitze vermischt mit ihrer eigenen aushalten musste. Sie erinnert sich an die Feuchtigkeit zwischen ihren Schenkeln, die sich so lustvoll anfühlte und bei der kleinsten Bewegung weiteres Begehren erweckte. Diese unendlich lange Stunde, in der sie nur unverständliche Worte durch Omars Stimme vernahm und das Verlangen spürte, er möge doch den Schäfer weiter schicken und endlich zu ihr zurückkommen. Erst als der Hirte aufbrach, wagte es Esthes sich zu bewegen und ihr Kleid wieder zuzuknöpfen. Der Freund erklärte ihr, dass es in der Wüste andere Gesetze gäbe. Und dass es unmöglich sei, einem Menschen, der seit Tagen oder Wochen mit niemanden gesprochen hat, ohne Gespräch zu begegnen. Dadurch lernte Esthes die Lust kennen, die in dem erwartenden Verlangen liegt, und sie weich machte für das, was mit Omar noch erlebt werden wollte.
„A table!“ Das Essen ist fertig. Die Frauen sitzen etwas verschlafen im Sand um die große Schüssel herum, aus der sich jede mit einem Löffel von dem Salat bedient. Das frisch gebackene Brot aus der Glut des Feuers ist, wie immer am Anfang eines Wüstengangs, der Höhepunkt des Essens. Nach dem Mahl schwärmen die Frauen aus, um die Region zu erkunden. Esthes hat Zeit für sich und badet in Stille. Die Guides, vom Ramadan-Tages-Fasten erschöpft, liegen als rotbraune Hügel unter ihren Burnushat. Esthes entfacht erneut das Feuer mit dem Holz der Wüste, dessen Geruch sie so liebt. Wie damals kocht sie für sich ihren arabischen Kaffee. Ausgerechnet ihren Platz hat Omar als ersten Lagerplatz angesteuert. Die Blicke, die sie beim Abladen austauschten, waren dieselben wie seinerzeit. So vertraut, als hätte es nie so einen langen Zeitraum zu ihrer letzten Begegnung gegeben. Dieses Selbstverständnis, welches sie in seiner Gegenwart empfindet, hat sie zuvor mit keinem Menschen verspürt. Sie würde Omar bitten heute Abend die übliche Feuerrunde eher zu verlassen, um mit ihr allein zu sein.
Wie eh und je kriecht Esthes auf eine der hohen Dünen und schaut in die Weite der Sandwogen. Wellen von Sand in ihren interessantesten Formen zu schauen, das hat sie schon immer geliebt. Hier auf dieser Düne wurde sie zur Wölfin.
Als die Jungs, wie Esthes ihre männlichen Begleiter zu benennen pflegte, mit den Vorbereitungen für das Abendessen beginnen, fragt sie Omar, ob er heute Abend mit ihr reden möchte.
„Selbstverständlich!“ ist seine Antwort.
Beim Abendbrot tauschen die Frauen schon die ersten Erfahrungen aus. Sie sind beeindruckt von der Weite des Gelbs, das nie langweilig wird, weil es sich in verschiedenen Rundungen und Schattierungen verteilt. Sie berichten von der Unglaublichkeit dieser Stille, den vielen Fliegen und den unterschiedlichen Spuren im Sand. Esthes erklärt die des Fuchses, die der wilden Hunde, die es noch in dieser Entfernung zur Zivilisation gibt. Sie beschreibt die Spuren des Wolfes, der Wüstenmäuse, der Skarabäi, der großen und der kleinen Pillendreher, die der Eidechsen, der Vögel und der Vipern. Aber die seien jetzt nicht mehr unterwegs. Die gebe es nur im Sommer. Eine Faszination für die Region, in der sich die Europäerinnen befinden, macht sich breit und mit ihr eine kleine Demut vor der Schöpfung dieser Welt.
Wie immer bleibt auch diese Reisegruppe nach dem Essen lange um das Feuer sitzen.
„Weißt du noch, wie wir das letzte Mal hier waren?“ fragt Esthes und schaut zu Mohamed. Er klopft auf sein Bein. „Ja, genau!“ Esthes wendet sich zu den anderen.
„Passt auf, beim letzten Besuch in der Wüste hatte sich ein Dromedar schon am ersten Tag einen Spreißel in den Fuß getreten.“ Sie kichert. „Die Guides haben es im Sitzen angebunden, hin und her geschaukelt, damit es auf die Seite fällt. Das Dromedar fiel aber unerwünscht auf die Seite, wo Mohamed stand. Das volle Gewicht knallte auf sein Knie. Er hatte Schmerzen, war kreidebleich und konnte sein Bein nur in einem bestimmten Winkel halten. Glücklicherweise hatte einer der Mitreisenden Schmerzmittel dabei, das Mohamed willig nahm. Ali, der Fahrer des Pickups, wurde angerufen. Er kam dann mit zwei weiteren Beduinen. Die Jungs haben das Dromedar dann noch mal auf die Seite gelegt und versuchte den Spreißel aus dem Fuß zu ziehen. Das Dromedar brüllte, wehrte sich, und auch wir Europäer mussten es an irgendwelchen Stricken festhalten, damit man überhaupt an den Fuß herankam. Mittlerweile wirkte das Schmerzmittel, und Mohamed hüpfte um das flach gelegte Tier herum und gab Anweisungen. Es war schon wieder komisch. Viel Aufwand und letztlich konnte keiner den Spreißel entfernen. Der fiel dann ein paar Tage später von selbst heraus. Mohamed wurde gegen einen anderen Guide ausgetauscht, und die Reise ging weiter, vielmehr begann sie eigentlich erst.“ Während Esthes die Geschichte erzählte, sprach auch Mohamed auf arabisch mit Chamal, der seinerzeit nicht dabei war und zeigte immer wieder auf sein Knie.
„Was hatte er denn?“ fragt Anne.
„Er hatte sich den Schienbeinkopf gebrochen und bekam einen Gips.“
Völlig selbstverständlich liegt Omars Kopf auf den Beinen von Esthes. Keiner scheint darauf zu reagieren. Noch wissen die Frauen nicht, dass sie eine sehr innige Beziehung mit einander verbindet. Die Wüsten erfahrene Frau übersetzt Hunderte von Fragen und Antworten, bis sie darüber enttäuscht ist, dass Omar keine Reaktionen zeigt, mit ihr aufzubrechen.
„Wo schläfst eigentlich du?“ fragt Gudrun. Esthes ist verlegen.
„Auch hier irgendwo. Ich habe mein Lager noch nicht gemacht.“ Das ist ihr Signal. Sie verabschiedet sich und legt sich hinter eine kleine Düne, uneinsehbar für die anderen. Sie blickt in das Gefunkel am Himmel. Immer neue, kleine leuchtende Punkte tauchen aus der Tiefe auf. Wieso hat Omar keine Initiative ergriffen, mit ihr zu reden? Hat er nicht auch das Bedürfnis gezeigt, sich mit ihr auszutauschen? Ist er immer noch der Mann, der kaum Initiative zeigt? Mit diesen Gedanken gleitet die müde Wanderin in die Unendlichkeit eines Wüstenschlafes unterm Sternenzelt.
Esthes träumt von der Weite des Sandes, als sie deutlich das knirschende Geräusch von Schritten auf dem feinen Pulver hört. Sie wird wach. Die Trittlaute werden lauter. Sie erkennt die Schritte von Omar. Dann ertönt leise seine Stimme.
„Also lass uns reden.“ Sie öffnet die Augen. Omar beugt sich über sie und schaut sie ruhig an.
„Jetzt kommst du erst?“ Die verschlafene Frau schüttelt sich, als ob sie den frisch gewonnenen Schlaf abwerfen möchte. „Ich habe schon geträumt.“
„Möchtest du weiter schlafen?" fragt der Mann, der bei Nacht noch dunkelhäutiger wirkt als bei Tage.
„Nein, aber ich bin enttäuscht, dass du erst jetzt kommst. Du wolltest doch auch mit mir reden, und nicht nur ich mit dir", murmelt Esthes.
„Ich habe am Feuer die ganze Zeit auf ein Zeichen von dir gewartet. Ich wollte dich nicht einschränken, sondern dir das Gefühl geben, dass ich deine Gefühle berücksichtige.“ Esthes ist wieder hellwach. Omar geht auf ihre Bedürfnisse ein. Sie hatte ihm Desinteresse unterstellt, wie schon so oft in den Zeiten vorher. Vielleicht hatte sie sich da auch getäuscht?
„Gut, dann lass uns reden, hol deine Sachen.“ Sie legen ihre Matten und Schlafsäcke neben aneinander. Der Beduine hat immer noch den Schlafsack, den Esthes ihm einmal geschenkt hatte. Der Reißverschluss sei kaputt. Omar benutzt ihn als Unterlage. Die weiße Frau bewertet es als ein Zeichen der Treue, denn auf einer Decke zu liegen wäre bequemer gewesen. Im Flüsterabstand liegen die beiden neben einander.
„Weißt du noch, dass wir es als besondere Veränderung betrachteten, wenn ich ein Auto besitzen würde?“ meint Omar.
„Ja, natürlich!“ haucht Esthes.
„Ich hatte ein Auto. Du kennst es.“ Omar macht eine Pause. Er ist sich der Überraschung seiner Aussage bewusst. „Es war der alte Peugeot von Abdalla, mit dem wir schon am Meer waren. Ich hatte davon geträumt, dich damit eines Tages vom Flughafen abzuholen.“