Ich bitte sie schließlich, sich zu setzen. Das machen sie auch und akzeptieren obendrein auch noch einen Drink. Wasser. Na klar. Sie schicken mich in die Küche, um sich so lange und so ungestört wie möglich in meinem Wohnzimmer umzuschauen. Bestimmt suchen sie die Fußböden ab nach Spuren, die auf ein Verbrechen hindeuteten. Blut, Haare, Scherben eventuell. Oder irgendetwas anderes, von dem sie annehmen könnten, dass es irgendwie Rückschlüsse auf irgendein Verbrechen erlaubte. Sie beobachten, überlegen, kommen zu bestimmten Schlüssen, verwerfen diese sogleich wieder, sind mit den Ergebnissen unzufrieden, weil sie damit mein Haus nicht verlassen können. Weil sie damit nicht zurück ins Präsidium fahren können. Weil sie an ihren eigenen Erwartungen scheitern. Weil sie wissen, dass sie an den Erwartungen anderer scheitern. Sie suchen ständig nach belastbarem Material. Sie sollten mich danach fragen. Es erleichterte die Dinge extrem.
Ich könnte und würde ihnen sagen, dass ich ihnen nur zu gern weiterhelfen würde; dass ich mein Leben für das meiner Tochter gäbe; dass ich die erste und die letzte wäre, die ihnen auch nur den geringsten Hinweis auf ihren Verbleib oder ihr Verschwinden gäbe, hätte ich denn nur solche Hinweise. Aber angenommen, ich täte es, würde solch eine Kooperation nicht erst Recht ihren Argwohn erregen? Würden sie mich nicht gerade des Mordes an meinem Kind bezichtigen? Je mehr ich mich einbrächte, mit Hilfe, Tipps oder gar aktivem Suchen, desto verdächtiger wäre ich und je verdächtiger ich mich möglicherweise verhielte – durch Schweigen, durch mangelnde Kooperation, wie immer diese auch aussehen möchte – desto genauer und misstrauischer beobachteten sie mich. So oder so. Ich bin immer die Dumme. Damned if I do, damned if I don’t… Ich bringe ihnen ihre Gläser mit Mineralwasser.
Dann begreife ich, dass die gesamte Arie der Fragerei von vorne los geht. Alles, was schon gefragt wurde und alles, was ich oder wir darauf geantwortet haben, wird noch einmal gefragt und natürlich muss ich noch einmal darauf antworten. Ich glaube, wir kauen das jetzt zum achten oder zehnten Mal durch. Und trotzdem bewegen wir uns nicht von der Stelle. Das ist die reinste Zeitverschwendung. Vielleicht sollten sie lieber die Leiche zehnfach untersuchen, um bloß keine Kleinigkeit zu übersehen. Diese berühmten Kleinigkeiten, die am Ende womöglich noch eine Verurteilung unmöglich machten. Aus Mangel an Beweisen. Obwohl diese Beweise buchstäblich auf dem Tisch lagen. Selbstverständlich hat die permanente Wiederholung ein und derselben Frage beziehungsweise derselben Fragensequenz einen kriminologischen Sinn und Zweck: Sie wollen prüfen, wie stringent ich antworte und ob ich nicht inhaltlich abweichend antworte oder etwas weglasse oder hinzufüge. Zu ihrer erweiterten Informationsgewinnung dient das allerdings keineswegs. Es dient lediglich als Versuch, mich zu verunsichern, aus mir Dinge heraus zu holen, die ich gar nicht sagen kann oder will; Dinge und Umstände, von denen ich gar nichts wissen kann und deren Preisgabe mich verraten soll. Aber das macht mir keine Angst. Ich brauche keine Angst zu haben. Vor ihnen nicht, vor anderen Polizisten nicht und ganz generell vor Niemandem. Sollen sie mich doch verdächtigen. Mir fällt auf, dass sie gar nicht nach Georg fragten. Normalerweise würde man doch als Paar verhört, oder etwa nicht? Verhört. Wie sich das anhört! Hab ich mich oder uns jetzt bereits selbst auf die Anklagebank gesetzt? Ich frage sie danach. Sie meinen, sie hätten meinen Mann in der Firma besucht und dort mit ihm gesprochen. Das sei durchaus üblich. Die Eltern vermisster Kinder würden grundsätzlich auch getrennt befragt. Man könne sich dadurch aufgrund der Aussagen ein differenzierteres Bild machen. Aha. Ich glaube, langsam zu verstehen. Es handelt sich um keine Befragung im eigentlichen Sinne. Sie meinen, viel weiter zu sein. Sie beginnen bereits, Schlingen auszulegen und sie zuzuziehen. Schwindel ergreift mich. Ich muss das irgendwie beenden. Ich sage ihnen, ich fühlte mich nicht wohl und dass ich heute keine weiteren Fragen mehr beantworten kann. Sie bringen Verständnis für meine Situation auf. Das ist nett. Der eine reicht mir eine Karte mit einer Telefonnummer. Ich solle dort anrufen und mit dem zuständigen Pathologen einen Termin vereinbaren. Ich stehe auf. Sie ebenfalls. Höflich bedanken sich die Herren für mein Verständnis und die Bewirtung. Ich geleite sie zur Tür.
Einige Minuten später habe ich mich gesammelt. Fragen, Sätze und Gesprächssituationen rattern mir durch den Kopf und ich weiß überhaupt nicht, ob das, was ich sagte, irgendwie von Wichtigkeit für Maria war. Oder ob es mir wichtig war und ist. Ich habe leider auch keinerlei Erfahrung mit der Polizei und so ist es mir schlicht unmöglich, die letzte halbe Stunde realistisch einzuschätzen und zu bewerten. Ich werde erst einmal im Krankenhaus anrufen. Die Pathologie des Krankenhauses teilt mir mit, dass zur Feststellung der eindeutigen Todesursache meiner Tochter durch die Staatsanwaltschaft eine Obduktion angeordnet worden sei. Das sei grundsätzlich so. Ich sage, ich werde an der Obduktion teilnehmen. Der Herr erwidert, dass so etwas ganz und gar nicht üblich sei und seines Wissens in diesem Krankenhaus noch nie vorgekommen ist. Ich teile ihm mit, dass ich dann eben die erste bin und dass Maria meine Tochter ist. "Jetzt nicht mehr"! sagt der Mann und will mir Details erklären. So zum Beispiel, dass ich ohnehin später zur Identifizierung gebeten werde. Den Quatsch höre ich mir nicht mehr weiter an. Ich lege auf und mache mich auf den Weg ins Krankenhaus.
Eine uninspirierte Empfangsdame sieht mich gelangweilt an. Sie lächelt blöde als ich ihr meinen Fall beziehungsweise mein Anliegen erkläre. Wie bezeichnet man das, was ich hier und jetzt gerade möchte, überhaupt? Es handelt sich um keinen Krankheitsfall. Auch nicht um eines Todesfall im eigentliche Sinne. Kein Ableben klassischer Art. Man wird eingeliefert und irgendwann wird die Maschine abgestellt und das Licht ausgemacht. Worum geht es also? Ist Maria ein ‚Vorgang‘? Ist sie ein ‚Totenakt‘ oder ein Todesfall? Handelt es sich bei ihr überhaupt um eine Leidende oder Bedürftige? Die letze Frage drängt sich mir deshalb auf, weil mein Gegenüber mich fragend anstarrt und mich dann nach meiner Berechtigung erkundigt. Hier könne nicht jeder einfach so rein spazieren. Er müsse schon einen Angehörigen, einen Bedürftigen oder engen Vertrauten hier ‚liegen‘ haben. Da könne ja ansonsten jeder kommen! Im übrigen seien Hygiene- und Sicherheitsfragen sehr wichtig. Es dürfte auf gar keinen Fall mit dem Handy telefoniert werden. Und ich sollte es am besten sofort ausschalten. Last not least seien Schilder mit der Aufschrift ‚Betreten verboten!‘ unbedingt zu respektieren. Ich glaubte ja nicht, und hier macht sie eine Pause, um ihr Kaugummi in ein Taschentuch zu wickeln und es in den Papierkorb zu werfen, wie oft man verirrte und verwirrte Besucher während einer OP aus OP-Räumen, dem Röntgentrakt oder der Krankenhausküche holte. Ich antworte ihr freundlich, dass ich weder verwirrt bin, noch mich in der Regel verirrte, vorausgesetzt, sie zeige mir den Weg in die Pathologie. Endlich fragt sie nach dem Namen meines Kindes. Sie bemüht ihren Computer, telefoniert zwei Mal und bittet dann zwei Mitarbeiter zum Empfang. Zwei Schwestern bringen mich nach längerem Warten in die Pathologie. Der Weg dorthin kommt mir endlos vor. Vorbei an Menschen, die durch Gänge geschoben werden oder einfach in ihnen liegen oder herumstehen. Manche sehen mich kurz an. Einige grüßen oder lesen Zeitung. Wiederum andere stehen an die Wände gelehnt, mit starrem, leeren Blick und vollkommen neutralen