Eine von den Vermissten. Harry Peh. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Harry Peh
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742798886
Скачать книгу
Ich lasse über die Polizei und das Radio und das Fernsehen und über Zeitungen verbreiten, dass ich mich gegen mein Kind eintausche. Wenn der Täter ein sexuelles Interesse an meinem Kind hat, ist er eigentlich mit mir besser bedient. Ich bin 1,78 Meter groß, habe eine sehr gute Figur (das sagt jedenfalls jeder unserer Freunde und alle in der Firma) und sehe auch sonst gut aus. Meine Beine sind lang und attraktiv geformt. Das ist es doch, worauf Männer achten, oder? Einige meiner solventen Kunden haben mir traumhafte Angebote in Aussicht gestellt, ginge ich privat einmal mit ihnen aus. Und manche von ihnen sind sogar zudringlich geworden. Ich habe sie abgewehrt. Sanft aber bestimmt. Sie taten dann so, als sei alles nur ein Scherz gewesen. Ein Scherz in Champagnerlaune. Sie sind eben Gentlemen. Sie alle sagten, ich strahle das gewisse 'Etwas' aus. Schöne Oberweite, lange Beine und so weiter, und so weiter. Aber ich bin nicht auf Sex mit meinen Kunden aus und war es nie. Ich weiß gar nicht warum nicht. Alle in der Firma haben Verhältnisse hier und da, klagen mir in den kurzen Pausen ihren Kummer und ihr Leid, ständig mit Versprechungen hingehalten oder mit der Ehefrau verglichen zu werden. Mir ist das zu kompliziert. Wahrscheinlich bin ich nicht eitel oder selbstverliebt genug, um mich derart zu erniedrigen. Mit der Liebe zu meinem Mann hat das wenig zu tun. Auch wir haben bessere Zeiten erlebt, in jeder Hinsicht. Wir schlafen ein, zweimal pro Monat miteinander und obwohl mir das nicht ausreicht, habe ich mich damit arrangiert. Er ist ein anständiger Kerl, charakterlich okay und kümmert sich um die Familie. Mehr kann man heute nicht erwarten. Wenn der Triebtäter also Sex will, könnte er mich gegen mein Kind eintauschen. Wenn ich dafür von dem Triebtäter meine Tochter wiederbekomme, dann bitte sehr. Soll er mich doch benutzen, missbrauchen und vergewaltigen. Meinen persönlichen Schmerz kann ich ertragen, den meiner Tochter nicht. Mein Leben wäre zerstört, das meiner Tochter nicht. Sie ist doch noch ein Kind. Ich bin vierzig Jahre alt.

      2. Tag

      Ich wache auf und kann es kaum glauben: Es ist 4.12 Uhr und ich wache auf. Tatsächlich habe ich geschlafen, etwa zwei Stunden lang. Das kann nicht wahr sein. Wie kann eine Mutter in einer derartigen Situation schlafen? Alles hätte passieren können in diesen zwei Stunden, die Erpresser hätten sich melden, oder die Polizei hätte mir die Nachricht von Marias Tod überbringen können, ich hätte am Fenster wachen oder selbst nach ihr suchen können, oder Maria wäre gekommen und hätte mich geweckt, mich umarmt und mit Küssen geweckt. All das hätte passieren können und noch viel mehr. Und was mache ich? Ich schlafe. Aber das passt zu mir, denke ich plötzlich. Als würde sich mir mein eigenes Wesen nach vierzig Jahren innerhalb von nur eineinhalb Tagen vollständig offenbaren. Als würde erst jetzt die ganze erbärmliche Wahrheit über mich selbst bei mir ankommen. Warum sollte ich sie auch im Schlaf besser schützen können als im Wachzustand? Ich war unfähig, ihr Verschwinden bei Tage zu verhindern, also kann ich nachts auch getrost schlafen. Das scheint ja wohl die Message zu sein. Ich habe nie an Gott geglaubt. Jetzt straft er mich dafür, indem er mir des Menschen Schwäche und dessen Fehlbarkeit vor Augen hält. Ich habe auch nie gebetet. Weder bei Tisch noch in der Kirche. Auch wenn wir irgendwo zu einer Hochzeit eingeladen waren, habe ich in der Kirche nicht gebetet. Ich habe noch nicht einmal so getan als betete ich. Mein Mann hat das kritisiert. Er sagte, man solle den Gastgebern aus Höflichkeitsgründen das Gefühl der Anteilnahme geben. In den letzten eineinhalb Tagen habe ich gebetet. Ich habe immerzu gebetet. Ich habe gebetet wie verrückt. Aber Gott hat mich seiner Anteilnahme nicht versichert. Mein Mann hatte also recht. Jetzt verlange ich etwas, was ich vorher nicht gewähren wollte. Wie es in den Wald hinein schallt...

      Vielleicht ist das die Strafe Gottes. Vielleicht hat er sich extra mich dafür ausgewählt. Wahrscheinlich gibt es ihn doch. Es gibt ihn in allen Kirchen und Huldigungsstätten dieser Welt und er beobachtet uns. Beobachtet uns, wie demütig wir sind. Ich war nie demütig. Nun lehrt er mich Demut. Und ich muss mich vor ihm verneigen. Ja ja, man könnte tatsächlich glauben, es gibt ihn. Aber nicht als Heilsbringer, so wie es manchmal von den Predigern verkündet wird. Sondern als strafenden Gott, wie es manchmal von den Predigern verkündet wird. Wenn ich noch niemals in der gesamten sogenannten Weltgeschichte eine einzige Heilsbotschaft gesehen oder gespürt habe, ein sogenanntes Wunder (für eine hundertstel Sekunde verspüre ich eine gewisse zynische Neigung zum Lachen, kann es aber nicht), seine Strafe, seinen Hass auf mich spüre ich. Ich kann ihn genau spüren, überall und jederzeit. Ich glaube sogar, dass er zu mir spricht. Aber ich kann nicht mit ihm sprechen. Ich kann ihn tausendmal in der Stunde fragen, wo meine Tochter ist und wann sie wiederkommt, aber er antwortet mir nicht. Und dann, wenn ich von vierundzwanzig Stunden des Tages, in seinen 1440 Minuten, an 86400 Sekunden ein einziges Mal nicht danach frage, dann, genau dann höre ich ihn leise den Namen meiner Tochter flüstern. Maria. Maria. Maria. Erst ganz leise und dann anschwellend bis das überlaute Echo seines Schreiens meinen Körper zerschmettert. Doch natürlich ist da nichts. Schon gar nicht Gott. Erst seit dem Verschwinden Marias weiß ich definitiv, dass es Gott nicht gibt.

      Ich stehe auf. Mein Mann bemerkt mich nicht. Er schläft. Ich bin entsetzt. Ich stehe vor ihm und schaue auf ihn hinab. Ich beuge mich zu ihm hinunter. Aber er bemerkt es nicht. Unfassbar. Er schläft und schläft und schläft und schläft. Die Regelmäßigkeit seines Atems macht mich aggressiv. Er schläft so ruhig, er würde nicht im leisesten von meinen Vorbereitungen, ihn einfach zu erschlagen, mitbekommen. Er würde es erst merken, wenn er stirbt. Und dann könnte er genauso weiterschlafen wie bisher. Wenn er wenigstens im Schlaf wühlen würde, sich wälzen, schwer und unregelmäßig atmen oder ab und zu kleine Schreie der Angst, der Sorge oder nur ein kurzes Stöhnen von sich geben. Aber nein. Er schläft wie gewöhnlich. So wie immer.

      Zunächst gehe ich am Bad vorbei, bis mir einfällt, dass ich mich seit zwei Tagen nicht gewaschen, gebürstet oder eingecremt habe. Auch trage ich das, was ich am Tag von Marias Verschwinden trug. Ich rieche an mir. Ich rieche an meinem Kleid. Mir fällt nichts Ungewöhnliches auf. Aber eigentlich müsste ein unangenehmer Geruch von mir ausgehen. Mindestens. Theoretisch müsste ich bereits stinken. Schweißgerüche, vermischt mit getrocknetem und abgestandenem Urin, vielleicht sogar der Geruch einsetzender Verwesung. Ich sollte meinen Mann danach fragen. Er würde lügen. Ich sehe das erste mal seit zwei Tagen in den Spiegel. Aber was ich sehe, bin nicht ich. Ich meine das nicht innerlich. Was ich sehe, bin nicht ich. Ich habe mich ganz anders in Erinnerung. Zunächst denke ich, dass es an der mangelnden Körperpflege liegen muss. Aber nein. Nachdem ich mir die Haare hochgesteckt habe und kaltes Wasser zehnmal mein Gesicht umspülte, nachdem ich mich langsam kreisend und tupfend mit einem frischen Handtuch abgetrocknet habe, sehe ich dieselbe äußerlich veränderte Frau. Mein Gesicht ist nicht nur alt geworden. Meine Augen sind geschwollen, rot unterlaufen und stumpf. Meine Wangen sind rot, aber weniger straff und leicht zurückgezogen als würden sie stündlich mehr einfallen. Übermorgen sind sie dann ganz weg. Übermorgen steht der Wangenknochen ganz heraus und die nackten Schädelkonturen werden sichtbar. Meine Lippen sind spröde und an zwei Stellen eingerissen. Ich glaube, sie haben an Volumen verloren. Die Mundwinkel hängen schlaff herunter und bilden Falten, Falten schimmernd in einem aschfahlen grau. Meine schönen Lippen! Ich habe, nein ich hatte, voluminöse Lippen. Sinnliche Lippen. Einen Mund, den mein Mann einmal gern geküsst hat.

      Ich entdecke ein kleines dunkles Härchen auf meiner Wange. Das muss weg. Wenn ich schon an dem anderen nichts verändern kann, dieses kleine widerliche Ding muss weg. Sofort! Wie von Sinnen krame ich in der Schublade nach meinem Nageletui, ich atme schnell, ich stöhne, ich muss es finden, schnell, ganz schnell. Das Härchen muss weg. Die Schublade fällt zu Boden. Mein Fingernagel bricht ab als ich das Etui aufreiße. Die Pinzette verfehlt ihr Ziel und ich steche mir in die Wange. Das Blut kommt spät und langsam, aber es kommt. Wie erwartet. Dann reiße ich so fest es geht an dem Härchen. Erst beim dritten Versuch gibt es endlich nach. Auch diese Stelle beginnt zu bluten. Aber auf der roten Wange kann man das Blut kaum sehen.

      Im Spiegel sehe ich meinen Mann im Baddurchgang stehen. Wortlos tritt er an mich heran und umarmt mich von hinten. Er küsst mich auf den Hals. Ich wende mich ein wenig ab. Dann gehen seine Hände unter mein Kleid. Er streift mir den Slip herunter. Meine Regel habe ich ganz vergessen als ich den roten Streifen in meinem Höschen sehe. Ich spüre seinen harten Schwanz. Er versucht tatsächlich in mich einzudringen. Ich möchte jetzt nicht. Ich möchte jetzt keinen Sex. Aber ich kann mich nicht bewegen