Sie können sich vorstellen, wie ich mich fühlte! Meine Welt war wieder im Lot, und ich war richtig stolz auf mich. Herausragende fachliche Kompetenz und das Geschick zur Selbstdarstellung ohne falsche Bescheidenheit – das war der Schlüssel zum Erfolg. Hey, das hatte ich goldrichtig gemacht.
Da ich als solcher ein besonnener Mensch bin, war mir aber durchaus bewusst, dass ich mich noch nicht ganz auf der sicheren Seite befand. Ich hatte auch nicht ernsthaft erwartet, dass mir der Präsident die Stelle quasi schenken würde. Die daran geknüpften Bedingungen waren jedoch nicht überzogen oder unrealistisch, sondern durchaus im Rahmen des Machbaren. Eigentlich ziemlich fair. Mit den auferlegten Verpflichtungen musste ich meine Bereitschaft erkennen lassen, auch etwas zum Gemeinwohl der Universität beizutragen, damit an anderer Stelle Personal eingespart werden konnte, und die geforderte Bestätigung meiner Qualifikation war ebenfalls legitim. Jetzt hing alles von dem Antrag zu meinem China-Projekt ab, den ich fristgerecht in sechs Wochen einreichen musste. Zeit genug also, um mit der frisch gewonnenen Motivation alles daranzusetzen, das Vorhaben überzeugend darzustellen. Auf die zwischenzeitlich angedachte Beantragung einer eigenen Stelle konnte ich jetzt getrost verzichten und, wie bisher, einen Doktoranden als wissenschaftlichen Bearbeiter einsetzten. Für mich definitiv die bequemere Lösung.
Als mir dann, Wochen später, beim ersten Blick auf das Schreiben von der DFG ins Bewusstsein drang, dass Wörter wie „leider“ und „bedauern“ mit einem Bewilligungsbescheid nicht in Einklang zu bringen waren, hatte mein Körper schlagartig das volle Programm der hormonellen und neuronalen Prozesse ausgelöst, die von der Natur als adaptive Reaktion auf existenzielle Bedrohungen vorgesehen waren. Der allgemeinen Theorie zufolge sollte der Organismus damit an seinen Überlebenswillen erinnert und in die Lage versetzt werden, entweder durch Flucht oder einen Angriff das relative Wohlbefinden wieder herzustellen. An viele der Situationen, die in der modernen Zivilisationsgesellschaft das Überleben des Individuums gefährden konnten – zum Beispiel Ablehnungsbescheide der DFG – hatte jedoch im Verlauf der Menschheitsentwicklung keine evolutionäre Anpassung stattgefunden, sodass das physiologisch eingeforderte Nachgeben des Fluchtinstinkts auch in diesem Fall keine dauerhafte Entspannung in Aussicht stellte. Bei mir entlud sich dieser innere Konflikt zunächst in destruktiven Zornausbrüchen, die sich allmählich in bitterer Verzweiflung erschöpften, bis ich schließlich – bereits ziemlich angetrunken – in lamentierendes Selbstmitleid verfiel und mir das baldige Ende meines elenden Scheißlebens herbeiwünschte, um nicht länger sinnlos leiden zu müssen. Bei aller Bereitschaft zur Offenheit möchte ich den genauen Ablauf dieses Geschehens hier jedoch nicht wiedergeben, um mir vor Ihnen noch einen Rest an Würde zu bewahren. Das Maß an Verständnis, das Sie jetzt vielleicht für mich aufbringen, wird ohnehin noch auf eine harte Probe gestellt.
Tags darauf, als die akuten Stresssymptome abgeklungen und der Rest der Nacht mit Unterstützung einer zusätzlichen Flasche Rotwein irgendwie überstanden war, hatte ich beschlossen, mich am Riemen zu reißen und der Gefahr, in lähmende Resignation zu verfallen, mental gegenzusteuern. Ausgestattet mit diesem Vorsatz, fühlte ich mich trotz meines immer noch leicht aufgedrehten Zustands in der Lage, halbwegs klare Gedanken zu fassen. Deshalb verzichtete ich jetzt auch auf eine Rückfrage bei der DFG, um auszuschließen, dass es sich bei meinem Ablehnungsbescheid lediglich um die folgenschwere Verwechslung mit einem anderen Antragsteller handelte. Anders als noch letzte Nacht, hielt ich einen solchen Irrtum nun für eher unwahrscheinlich.
Dennoch fragte ich mich verstört, wie es sein konnte, dass die Gutachter zu einem derart vernichtenden Urteil gekommen waren. Aus dem allgemein gehaltenen Schreiben der DFG ging dies nicht hervor, und die Möglichkeit, die zu meinem Antrag erstellten Gutachten einzusehen oder gar gegen die Entscheidung Widerspruch einzulegen, bestand nicht.
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es in meinem näheren oder weiteren wissenschaftlichen Umfeld jemanden gab, der aus Konkurrenzgründen ein Interesse an der Ablehnung meines Projekts haben könnte. Auch persönliche Feinde, die in der Position waren, mir auf diese Weise zu schaden, hatte ich mir meines Wissens nicht gemacht. – Gut, da gab es die Sache mit der Gattin eines Professors, die auf einem Hochschulfest von ihrem wichtigen Mann, der eben erst Dekan geworden war, vernachlässigt wurde. Sie, eine recht gut aussehende, elegante Mittfünfzigerin mit rotblond gefärbten Haaren, hatte mich nach einem Blickkontakt, dem ich eine Weile standhielt, angesprochen. Ich habe übrigens immer wieder festgestellt, dass ich auf ältere Frauen einen gewissen Eindruck mache. Keine Ahnung, wieso. Ich selbst halte mich, ehrlich gesagt, für höchstens mittelmäßig attraktiv. Ich bin knapp einsachtzig groß und eher schmächtig. Meine schwarzen Locken und die dunklen Augen stammen wohl aus dem Genpool meiner Schweizer Großeltern, deren Vorfahren wiederum aus Italien stammten. Was mich an meinem Aussehen stört, ist meine spitze Nase und vor allem mein unproportional breites Kinn, wodurch mein Kopf richtig eiförmig aussieht. Mit einer entsprechenden Frisur versuche ich, diese Wirkung einigermaßen zu kompensieren.
Mit jüngeren Frauen läuft es nicht so gut. Ich hatte zwar immer wieder Freundinnen, die mich „sehr nett“ fanden und meine angeblich „jungenhafte Art“ mochten. Aus verschiedenen Gründen, die jetzt nicht alle aufgezählt werden müssen, sind diese Beziehungen jedoch immer nach recht kurzer Zeit gescheitert. – Ich weiß nicht, aber irgendwie habe ich oft das Gefühl, von den Frauen nicht richtig ernst genommen zu werden. Sie behaupten zwar, meine Arbeit „interessant“ zu finden, aber wirklich etwas wissen wollen sie davon nicht. Während ich leidenschaftlich von meinen Erkenntnissen erzähle, fangen sie unvermittelt an, andere Sachen nebenher zu machen. Blumen gießen, Wäsche sortieren oder sowas. Nachdem ich dann meine Ausführungen beendet hatte, bedachten sie mich mit einem nicht zu deutenden Blick, tätschelten mich am Arm und sagten so etwas wie: „Mein großer Forscher.“ Sonst nichts. Toll. Als wäre ich ein Kleinkind, das entdeckt hat, dass Mami im Sitzen pinkelt und Papi im Stehen. Was ich dann allerdings früher oder später immer zu hören bekam, war der Vorwurf, dass mir meine Forschung wohl grundsätzlich wichtiger sei als die Beziehung. Selbstkritisch muss ich dazu bemerken, dass sie damit grundsätzlich recht hatten. Es gab nur eine Frau, bei der alles anders war. Ganz anders. Sie hieß Irmtraud. Merken Sie sich schon mal diesen Namen, er wird Ihnen noch öfters begegnen.
Damals, um auf das Fest an der Uni zurückzukommen, endete der Abend mit der Professorengattin in einer enthemmten Knutscherei an der Sektbar, was zumindest einige Kollegen ihres Mannes mit Befremden registriert hatten. Aber das war nun schon bald zwei Jahre her, und außerdem gehörte der betreffende Professor – sein Name braucht jetzt nicht genannt zu werden – zur wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät, sodass zwischen ihm und mir auch keinerlei fachliche Verbindung bestand.
Moment mal, hatte mich dann plötzlich der Gedanke durchzuckt – natürlich gab es jemanden, der ein Interesse daran hatte, dass mein Projekt abgeschossen wurde: der Präsident! Der hatte ja schließlich die Genehmigung meiner Dauerstelle an die Bedingung geknüpft, dass mein Projektantrag durchging. Logisch! Dieser Hund hatte nie vorgehabt, sein Angebot wahr zu machen, sondern war von Anfang an davon ausgegangen, dass mein Forschungsantrag abgelehnt wurde. Weil er nämlich selbst dafür gesorgt hatte!
Der Präsident war von Hause aus Naturwissenschaftler und mit Sicherheit auch schon des Öfteren als Gutachter für die DFG tätig gewesen. Folglich kannte er auch die Vertreter des für meinen Antrag zuständigen Fachkollegiums, die maßgeblichen Einfluss auf die Förderentscheidung hatten. Der eine oder andere von ihnen mochte sich durch loyales Verhalten dem Präsidenten gegenüber gewisse Vorteile erhoffen oder war ihm zu Gefälligkeiten verpflichtet, damit dieser zum Beispiel sein Wissen um die Spesenrechnung vom Besuch der estländischen Partneruniversität, auf der die Ausgaben für die Bewirtung bestimmter junger Damen unter „Einladung von Studentenvertretern“ verbucht waren, für sich behielt. Somit war es für den Präsidenten ein leichtes, in einem mit kameradschaftlich-jovialem Unterton geführten Telefongespräch sein Anliegen durch dezente, aber unmissverständliche Andeutungen zielführend zu vermitteln.
Klar, der Präsident hätte meinen Antrag auch direkt ablehnen können, was aber seinem scheinheiligen, nach außen hin gepflegten Image des fürsorgenden