Das Klingeln an der Wohnungstür unterbrach sein Spiel.
Mürrisch stand er auf.
„Wer ist denn das jetzt um diese Zeit? Wahrscheinlich der Postbote.“
Er ging an die Wohnungstür und betätigte den Türöffner. Er hörte stolpernde, schwere Schritte und keuchenden Atem. Ein alter Mann in einem abgetragenen Wintermantel kam mit gebeugtem Rücken die Treppe hoch. Seine leicht gelockten weißen Haare hingen ihm wirr ins tief gefurchte Gesicht. Der Vollbart war ungepflegt.
„Maurischat mein Name, Dieter Maurischat“, stellte er sich vor und schüttelte den Schnee vom Mantel. „Entschuldigen Sie, wenn ich störe. Ich muss Sie unbedingt sprechen. Jetzt gleich. Sie sind meine letzte Hoffnung.“
Ganz gleich, was der alte Mann ihm sagen wollte, auf alle Fälle brauchte er Hilfe, und da konnte er ihn doch nicht im kalten Treppenhaus stehenlassen.
„Langsam, langsam. Jetzt kommen Sie erst einmal weiter“, versuchte er den alten Mann zu beruhigen. Er nahm ihm den Mantel ab und hängte ihn an die Garderobe, führte ihn dann in sein Wohnzimmer und bot ihm einen Platz auf der Couch an.
„Möchten Sie einen Kaffee?“
„Nein, danke, ich bin schon so nervös, da macht meine Pumpe nicht mit. Aber ein Glas Wasser, wenn es nicht zu viel Umstände macht.“
„Ach, woher.“
Travniczek holte eine Flasche Mineralwasser nebst zwei Gläsern aus der Küche und setzte sich ihm gegenüber auf einen Sessel.
„Was erregt Sie denn so?“
Der alte Mann brauchte lange, ehe er mit gepresster Stimme begann: „Mein Sohn …“ Seine Hände zitterten. „Mein Sohn … er wird … in einigen Tagen … aus dem Faulen Pelz* entlassen.“
Maurischat atmete flach und hektisch. Travniczek ließ ihm viel Zeit, ehe er dann vorsichtig nachfragte: „Weswegen ist er denn in Haft?“
Da ballte der Alte die Fäuste.
„Das ist es ja! Wegen nichts! Wegen rein gar nichts! Zehn Jahre! Und jetzt ist alles kaputt.“
Travniczek merkte gar nicht, wie sehr ihn die Verzweiflung des alten Mannes berührte. Vorsichtig und ruhig fragte er weiter: „Zehn Jahre … was soll Ihr Sohn denn verbrochen haben?“
Der Alte konnte nicht sofort antworten. Er kämpfte mit den Tränen.
„Er soll … seine Freundin umgebracht haben“, sagte er leise mit Kopfschütteln. „Aber sie haben nicht einmal die Leiche gefunden.“
„Und Sie glauben also, dass Ihr Sohn unschuldig ist?“
„Ja, da bin ich mir ganz sicher. Wissen Sie, Berit war ein wunderbares Mädchen. Meine Frau und ich waren so froh über diese Beziehung. Die beiden waren ein Herz und eine Seele. Es ist völlig undenkbar, dass er ihr irgendetwas hätte antun können. Er war doch so glücklich ...“
Jetzt konnte er die Tränen nicht mehr zurückhalten.
„Lassen Sie sich Zeit. Versuchen Sie, der Reihe nach zu erzählen, wie alles gekommen ist.“
Der alte Mann wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen.
„Also, alles fing an vor jetzt zwölf Jahren, an einem schönen Sommerabend. Berit wollte da noch einmal Wolfgang besuchen und ist so gegen halb acht von zu Hause weggegangen – sie wohnte damals in Heiligkreuzsteinach* und brauchte zu Fuß etwa zwanzig Minuten. ... Aber sie ist nie bei uns angekommen.“
„Sorry, wenn ich unterbreche. Wo wohnen Sie selbst?“
„Hab ich das noch nicht gesagt? In Waldesruh.“
„Waldesruh? Wo liegt das?“
„In der Nähe von Heiligkreuzsteinach*. Es ist nur ein kleines Dorf, hat gerade mal hundertfünfzig Einwohner.“
„Oh, in der Gegend habe ich einmal sehr unangenehme Erfahrungen gemacht.“
Maurischat sah ihn fragend an.
„Das zu erzählen würde jetzt sicher zu weit führen. Vielleicht nur so viel: Ich bin damals dem Tod gerade noch so von der Schippe gesprungen.3 Aber jetzt erzählen Sie doch bitte weiter.“
„Also, wo war ich? … Ach ja, Berit war also nicht bei uns angekommen. Wolfgang hat dann natürlich bei ihr zu Hause angerufen, aber sie hat sich nicht gemeldet.“
„Was war mit ihren Eltern? Konnten Sie die nicht erreichen?“
„Nein, ihre Mutter war für ein paar Tage weggefahren und der Vater war einige Wochen vorher ausgezogen. Es hatte da wohl einen fürchterlichen Ehestreit gegeben. Näheres darüber weiß ich nicht.“
Maurischat war ins Schwitzen gekommen. Er zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dann fuhr er fort: „Wolfgang ist dann nach Heiligkreuzsteinach gelaufen, aber es war alles dunkel. Da war niemand. Später, es muss so um halb elf gewesen sein, wollte ich dann bei der Polizei eine Vermisstenanzeige aufgeben. Aber der Polizist hat mich nicht ernst genommen und von oben herab belehren wollen. Jugendliche verschwänden oft mal eine Weile, hat der gemeint. Das sei in diesem Alter ganz normal. Berit würde schon wieder auftauchen. Wenn nicht, sollte ich dann am nächsten Morgen auf die Polizeiwache kommen.
Ich habe mich darauf eingelassen, leider. Als ich dann am nächsten Morgen zur Polizei fahren wollte, war unser Auto plötzlich weg. Das war schon merkwürdig, aber ich sah zuerst keine Verbindung zu Berits Verschwinden.
Die Polizei wollte immer noch nichts unternehmen. Erst einen Tag später haben die endlich begriffen, dass Berit tatsächlich verschwunden war und ein Verbrechen vorliegen könnte. Sie suchten dann mit mehreren Hundertschaften im weiten Umkreis. Nichts.
Nach zwei Tagen haben sie dann unser Auto gefunden, im Wald in der Nähe von Mosbach*, wenn Sie wissen, wo das ist. Auf dem Beifahrersitz war ein riesiger Blutfleck. Sie fanden heraus, dass der eindeutig von Berit stammte.“
Maurischats Stimme war schon bei den letzten Sätzen heiser und brüchig geworden. Jetzt konnte er nicht mehr weiter. Fast unverständlich murmelte er vor sich hin:
„Entschuldigen Sie … aber … es ist … zu schwer … warum … warum … musste dieses wunderbare Mädchen sterben? … Das ist so ungerecht … so ungerecht … und jetzt ist … alles vorbei …“
Travniczek wollte den alten Mann irgendwie beruhigen. Aber er fand nicht die richtigen Worte. Er wartete lange, ehe er fragte: „Herr Maurischat, wie ging es dann weiter?“
Der alte Mann schreckte auf, als ob er gar nicht mehr genau wüsste, wo er sich befand.
„Entschuldigen Sie … ich will es versuchen … Da waren dann plötzlich zwei Zeugen, die gesehen haben wollten, wie Wolfgang und Berit mit dem Auto gegen 20 Uhr von Waldesruh in Richtung Heiligkreuzsteinach weggefahren sind. Die haben aber auf jeden Fall gelogen, denn Wolfgang war die ganze Zeit zu Hause gewesen. Einer der Zeugen behauptete dann sogar, die Beziehung zwischen Wolfgang und Berit sei schon zu Ende gewesen. Vierzehn Tage vor ihrem Verschwinden hätte sie mit ihm geschlafen und wäre seitdem seine Freundin gewesen. An dem Abend ihres Verschwindens habe sie Wolfgang sagen wollen, es sei vorbei. Aber auch das war gelogen.“
„Wer waren die Zeugen?“
„Adalbert und Waldemar Schittenhelm, Sohn und Neffe von Ansgar Schittenhelm, dem reichsten Mann im Ort.“
„Und der hat gute Verbindungen?“
„Mit Sicherheit.“
„Sagen Sie, wie alt ist Ihr Sohn eigentlich?“