„Aber ... warum kommt er dann hierher zurück? Das macht doch keinen Sinn“, brachte Kurz verwundert vor.
„Ja, da haben Sie natürlich recht“, erwiderte Jauerneck seufzend. „Das wüsste ich auch gern.“
„Reden wir doch nicht weiter um den heißen Brei herum“, ergriff jetzt wieder Adalbert Schittenhelm das Wort und versuchte, seiner Chefrolle gerecht zu werden. „Wenn Waldemar sagt, rechtlich ist da nichts zu machen, dann muss es eben anders gehen.“
„Wie anders?“, fragte Gerster. „Meinst du – so?“ Und er deutete mit einer Geste Erhängen an.
„Man muss doch nicht gleich zum Äußersten greifen“, entgegnete Adalbert Schittenhelm lächelnd. „Nein, ich mache mir an dem doch nicht auch noch die Finger schmutzig. Nein, nein, wir werden ihm mit abgestuften Aktionen hier das Leben so zur Hölle machen, dass er über kurz oder lang von alleine geht.“
Hinter seiner Zeitung verborgen machte sich der „Spion“ immer wieder Notizen.
„Ich hätte da ‘ne Idee“, schaltete sich überraschend Mostacci ein und setzte sein bekanntes Clownslächeln auf. „Wir sollen ihn wieder in unsere Dorfgemeinschaft aufnehmen. Also tun wir, was der Staat von uns verlangt. Sind wir also freundlich zu ihm und machen wir ihm ein Begrüßungsgeschenk.“
Die Männer murmelten aufgeregt durcheinander. „Was soll das denn jetzt? Unser Maler spinnt mal wieder. Schenken sollen wir dem noch was?“
„Doch nicht gleich so aufgebracht“, beschwichtigte Mostacci. „Wir dürfen uns doch nicht die gute Laune verderben lassen. Wartet’s einfach mal ab. Ich bin sicher, mein Vorschlag wird euch hellauf begeistern.“ Er stand auf. „Waldemar, ich hab auch meine Quellen. Die sind besser als deine, denn ich weiß schon seit Monaten, dass er zurückkommt. Da hab ich sicherheitshalber schon mal was vorbereitet.“
Er ging langsam, mit betont schlaksigen Bewegungen zur Garderobe und griff nach seinem Paket. Er hob es auf, sah es von allen Seiten prüfend an, als wüsste er selbst nicht, was es enthielt.
„Jetzt ratet mal, was ich da habe.“
„Der macht’s mal wieder spannend“, meinte Dr. Wollzogen ungeduldig.
„Bühnenreif wie immer“, kommentierte Jauerneck aufmunternd.
„Na, wahrscheinlich hat er wieder etwas gemalt“, spottete Mampel. „Was Anderes kann er ja nicht.“
Mostacci kam zurück, legte das Paket auf den Tisch, sah es noch mal von allen Seiten an, strich beinahe liebevoll darüber, ehe er begann, die aufwendige Verpackung genüsslich und umständlich zu entfernen. Das dauerte natürlich viel länger als eigentlich nötig. Die Männer sahen ihm dabei gebannt zu. Er hatte sie gepackt und genoss es sichtlich, im Mittelpunkt zu stehen. Das erlebte er viel zu selten und brauchte es doch so sehr.
„Geduld, Geduld, gleich haben wir’s.“
Schließlich enthüllte er ein Bild, etwa 50 auf 70 cm groß, in einem einfachen Holzrahmen. Er hielt es hoch in der sicheren Erwartung allseitiger Wertschätzung. Die Runde war sprachlos.
Zu sehen war das Porträt einer schönen jungen Blondine, dahinter eine Teufelsgestalt mit furchteinflößender Fratze, die ein langes Messer so an die Kehle der Frau führte, dass man den weiteren Ablauf tatsächlich zu sehen glaubte. Die Männer konnten die Gesichter eindeutig zuordnen: Der Teufel – das war ohne jeden Zweifel Wolfgang Maurischat. Die Frau war keine andere als Berit Ehlers, die Wolfgang vor zwölf Jahren – damals war sie sechzehn – ermordet hatte.
Sogleich Bravorufe und Beifall. Alle standen auf, auch der „Spion“ in der hinteren Ecke. Er hatte die Zeitung weggelegt und wollte genau sehen, was da am Stammtisch passierte.
„Alle Achtung, Mostacci!“, tönte Mampel laut los. Die Männer stießen heftig ihre Biergläser zusammen. „Und dazu schreiben wir ihm noch einen Brief!“, forderte Brinkmann großmäulig. „Wir schreiben, dass wir ihn ganz herzlich wieder unter uns begrüßen. Jawoll, und das ganze Dorf unterschreibt!“
Und er begann zu grölen: „Hoch soll er leben, hoch soll er leben, …“
Die Anderen fielen ein, nicht sehr intonationssicher, dafür laut und martialisch. Das klang ganz anders als vorher in der Kirche.
3
Edwin Jauerneck hatte als Erster die „Jägerstube“ verlassen. Draußen schneite es immer noch, jetzt schon den vierten Tag in Folge. Der Nebel schien sogar noch dichter geworden zu sein und es wollte überhaupt nicht hell werden an diesem Tag. Nichts war zu hören außer dem Knirschen seiner Winterstiefel im hohen Schnee und seinem keuchenden Atem. Denn der Weg zu seinem Haus, das oberhalb der anderen direkt am Waldrand lag, war anstrengend, weil bei jedem Schritt die Füße fast bis zu den Knien im Schnee versanken.
Aber das nahm er gar nicht wahr. Zu sehr beunruhigte ihn, was sie eben beschlossen hatten, denn das war nicht recht. Es würde neues Unheil heraufbeschwören. Aber obwohl er das wusste, hatte er dennoch mitunterschrieben. Warum, warum nur war er immer zu schwach, sich gegen die Schittenhelms zu behaupten? Warum hatten sie diese Macht über ihn und alle anderen, die das aber gar nicht merkten oder merken wollten?
Dazu hatte ihn Mostaccis Gemälde zutiefst verstört. Der Mann verstand seine Kunst. Diese Teufelsfratze blickte so abgrundtief bösartig in die Welt, dass sich vernichtet fühlen musste, wer sie ansah. Und dennoch war es ein menschliches Antlitz. Es war unleugbar Wolfgangs Gesicht.
Aber noch mehr als die Teufelsgestalt beunruhigte ihn die junge Frau auf dem Bild. Sicher, es war unverkennbar Berit. Seine Erinnerung an damals war noch deutlich genug. Aber sie war es dann eigentlich doch nicht, denn gemalt hatte Mostacci nicht das sechzehnjährige Mädchen, das Wolfgang damals ermordet hatte. Das Bild zeigte die junge Frau, die Berit heute wäre, wenn sie noch lebte. Wie konnte Mostacci sie so malen? Künstlerische Intuition … oder? … Nein, es konnte kein Oder geben.
Und es kamen ihm wie schon so oft Zweifel, ob damals im Prozess wirklich der Richtige verurteilt worden war. Natürlich waren die Indizien erdrückend gewesen. Nur – es fehlte eben die Leiche. Und Wolfgang hatte die Tat hartnäckig geleugnet. Sicher wäre er nicht verurteilt worden ohne die Zeugenaussagen von Adalbert und Waldemar. Aber warum hätten die lügen sollen? Er konnte sich keinen Grund vorstellen, damals nicht und auch heute nicht.
Mostacci – der hatte ihn auch verwirrt. Noch nie hatte er diese Traurigkeit in seinem Gesicht gesehen. Da war ihm mit einem Mal klargeworden: Der Dorfclown, das war nur seine Maske, und dahinter verbarg sich ein ganz anderer Mensch. Aber wer? Hatte das mit der Geschichte zu tun? War er irgendwie darin verstrickt? Wusste er, dass es doch ganz anders war, und hatte Gründe, das für sich zu behalten? War er vielleicht gar der Mörder?
Nein, nein, soweit durfte er nicht spekulieren. Dennoch: Der Maler musste von dem Mord an Berit irgendwie persönlich betroffen sein. Aber wenn das so war, dann steckte in dem Bild womöglich eine geheime Botschaft an die Dorfbewohner.
Er war froh, als er seine Haustür erreichte. Er öffnete schnell. Der betörende Duft von Gänsebraten kam ihm entgegen und ließ ihn seine bangen Gedanken fürs Erste vergessen.
Tagebuch - 25.12.
Ich soll alles aufschreiben, was passiert, hat Oma gesagt, und auch alles, was schon passiert ist. Deswegen hat sie mir extra dieses Heft zu Weihnachten geschenkt.
Aber was soll das eigentlich helfen? Und wenn Vater das Heft in die Hände fällt, schlägt er mich tot. Ich muß es immer gut verstecken.
Wie hat alles eigentlich angefangen? Es hat gar nicht angefangen. Es war schon immer so. Und überhaupt kann ich mich schlecht erinnern. Irgendwann war ich lange krank, wohl schwer krank. Aber genau weiß ich das nicht mehr. Dann war ich plötzlich im Krankenhaus. Ich hatte mir den Arm gebrochen. Aber wie es passiert ist, weiß ich auch nicht mehr. Mein Freund, der Paul, hat mir erzählt, er weiß noch, was er zum dritten Geburtstag bekommen hat.