Nicht mehr weiterdenken jetzt.
Er sprang aus dem Bett und legte seine Schlaf-CD ein. Sie begann mit der Einleitungssinfonia der Bachkantate „Ich hatte viel Bekümmernis“. Auch das eine tieftraurige Musik. Aber eine Traurigkeit, in der er den Keim der überschäumenden Freude schon hören zu können glaubte, zu der diese Kantate schließlich führen würde. Seine tiefen inneren Spannungen lösten sich und er fühlte sich wie auf Wogen davongetragen. Noch ehe die Sinfonia verklungen war, war er eingeschlafen.
Tagebuch - 20.2.
Vielleicht laufe ich einfach weg, weit weg, wo Vater mich nicht finden kann. Aber ich weiß nicht wohin. Oma hat gesagt, ich soll mal zum Herrn Pfarrer gehen und ihm alles erzählen. Der wird mir bestimmt helfen. Aber der Herr Pfarrer war schon böse, weil ich überhaupt zu ihm gekommen bin. Dann habe ich angefangen zu erzählen. Aber er wollte gar nicht zuhören. Er fing sofort vom vierten Gebot an. Ich mußte es aufsagen. „Der liebe Gott will, daß Kinder immer ihren Eltern gehorchen“, hat er gesagt.Will der liebe Gott auch, daß Vater mich dauernd schlägt?
17
Kurz nach sieben klingelte das Telefon. Erst nach dem sechsten Läuten realisierte Travniczek, dass er wohl gemeint war, griff schlaftrunken nach dem Hörer und riss dabei das Telefon vom Nachttisch.
Da war es still.
Travniczek ließ auch den Hörer auf den Boden fallen und zog die Bettdecke über den Kopf. Es dauerte ein paar Minuten, dann meldete sich sein schlechtes Gewissen.
‚Du solltest doch mal nachsehen, wer angerufen hat. Vielleicht war es ja wichtig.‘
Er drehte langsam den Kopf in Richtung Telefon. Da erhob sich groß und übermächtig sein innerer Schweinehund, sah ihn mit den treuherzigen Augen eines Golden Retriever an und sagte ganz lieb: ‚Joseph, du brauchst noch viel Schlaf, denn du hattest gestern einen sehr schweren Tag und bist erst sehr spät eingeschlafen. Glaub mir, wenn es wichtig war, wird sich der Anrufer bestimmt noch einmal melden.‘
Travniczek gehorchte aufs Wort und drehte sich noch einmal auf die andere Seite. Aber obwohl er die Bettdecke vollständig über den Kopf gezogen hatte, störte ihn etwas und er konnte nicht wieder einschlafen. Von irgendwo her erklang ganz leise ein hoher Dauerton. Hat sich bei mir über Nacht ein Tinnitus eingestellt, fragte er sich erschrocken. Doch dann kam ihm der Gedanke, es könnte sich um das Freizeichen des am Boden liegenden Telefons handeln. Also zog er die Bettdecke weg und der Ton wurde tatsächlich lauter. Er stand jetzt nicht etwa auf, sondern schob sich nur an die Bettkante, griff nach unten und zog Telefon samt Hörer an den Anschlusskabeln zu sich hoch. Nach einigen Fehlversuchen schaffte er es schließlich, das Gerät wieder auf den Nachttisch zu befördern und den Hörer an seinen angestammten Platz zu bugsieren.
So, jetzt hab ich Ruhe, freute er sich. Doch es dauerte nicht lange und es klingelte erneut. Sofort flüsterte ihm der innere Schweinehund zu: ‚Warte, bis der Anrufer aufgibt, dann hast du sicher endgültig Ruhe.‘ Doch, o Wunder, diesmal gewann das schlechte Gewissen und er nahm den Hörer ab.
„Ja“, brummte er kaum hörbar.
„Solms hier!“
O je, wenn Sonntag morgens der Polizeidirektor anrief, versprach das sehr unangenehm zu werden.
„Was haben Sie sich eigentlich gedacht bei Ihrer völlig überzogenen Aktion gestern in diesem Kuhdorf im Odenwald?“
Travniczek fühlte sich irgendwie geohrfeigt, war aber noch nicht wach genug, um diese Attacke sofort parieren zu können.
„Moment mal, wovon reden Sie eigentlich?“, versuchte er Zeit zu gewinnen.
„Werden Sie jetzt nicht auch noch unverschämt! Sie haben gestern wegen einer Lappalie ein ganzes Dorf verhört und in Angst und Schrecken versetzt. Haben Sie denn überhaupt kein Gespür für Verhältnismäßigkeit?“
Plötzlich war er hellwach.
„Entschuldigen Sie, von wem haben Sie diese Information? Ich glaube, Sie sind …“
„Von wem ich diese Information habe? Vom Innenminister persönlich! Er hat mich heute Morgen um halb sieben, verstehen Sie, um halb sieben angerufen und eine Erklärung verlangt. Ein Bürger des Dorfes, mit dem er befreundet sei, der sich obendrein um unser Land durch viele großzügige Spenden verdient gemacht habe, hätte sich beschwert und massive Konsequenzen gefordert.“
Aha, dachte Travniczek, es geht los: Dieser „Bürger“ kann nur Ansgar Schittenhelm sein. Der Herr hat also Beziehungen bis ganz nach oben.
Er ging zum Gegenangriff über: „Herr Direktor, gestern in diesem Kuhdorf namens Waldesruh – das war Mordversuch mit Ansage. Und wir verdanken es nur einem glücklichen Zufall, dass es beim Versuch geblieben ist. – Und jetzt erwarte ich, dass Sie zunächst meinen Bericht über die gestrige Aktion zur Kenntnis nehmen, bevor Sie mich weiter grundlos attackieren. Sonst ist das Gespräch für mich beendet. Schließlich ist heute Sonntag.“
Er sah ganz plastisch vor sich, wie Solms mit offenem Mund völlig verdutzt auf den Hörer starrte. Eine solche Gegenwehr hatte er in seiner Zeit als Polizeidirektor wahrscheinlich noch nicht erlebt. Travniczek nutzte das und begann einfach zu berichten. Solms hörte tatsächlich zu, ohne ihn zu unterbrechen.
Als der Hauptkommissar geendet hatte, blieb es eine Weile still. Dann antwortete Solms, sichtlich nachdenklicher geworden: „Was ich aber gar nicht verstehe: Warum ist dieser Maurischat nach Waldesruh zurückgekehrt? Es war doch abzusehen, dass das Ärger gibt.“
„Das habe ich mich natürlich auch sofort gefragt. Es hat, soweit ich das sehe, zwei Gründe. Einmal kann sich wohl sein Vater nicht vorstellen, dieses Haus, in dem er seit seiner Kindheit lebt, aufzugeben. Zum anderen behaupten Vater und Sohn übereinstimmend, dass Wolfgang Maurischat zehn Jahre unschuldig im Gefängnis saß. Er sei damals vom wahren Täter irgendwie hereingelegt worden. Jetzt glaubt Wolfgang, erst seine Unschuld beweisen zu müssen, bevor er daran denken kann, sein Leben wieder neu aufzubauen.“
Solms atmete hörbar schwer.
„Aber Sie wollen doch jetzt nicht etwa eine Wiederaufnahme dieses alten Falles betreiben?“
„Was heißt ‚wollen‘? Ich habe die Ermittlungsakte von damals durchgesehen, einfach ein Skandal. Maurischat stand offenbar für die Ermittler von Anfang an als Täter fest. Es gab und gibt bis heute keine Leiche und kein Geständnis. Einer Reihe von entlastenden Spuren wurde überhaupt nicht nachgegangen. Die entscheidenden Zeugenaussagen von den Herren Adalbert und Waldemar Schittenhelm wurden nicht auf ihre Richtigkeit überprüft. Das wirft kein gutes Licht auf die Heidelberger Kriminalpolizei!“
Solms seufzte schwer und sagte eine Weile nichts. Seine Empörung war in Besorgnis umgeschlagen. Sehr viel freundlicher, ja geradezu werbend meinte er schließlich: „Travniczek, ich habe Sie da sicher etwas ungerechtfertigt attackiert und bitte Sie, das zu entschuldigen. Doch mir ist überhaupt nicht wohl dabei, wenn Sie in diesen Fall tiefer einsteigen. Sie müssen wissen: Ansgar Schittenhelm, den Sie ja bei Ihrem Verhörmarathon nicht angetroffen haben, hat sich beim Innenminister über Sie beschwert. Er ist überall in der Gesellschaft hoch angesehen als Kunstmäzen und Förderer vieler sozialer Projekte, vor allem in der Jugendarbeit. Er ist nicht nur persönlich mit dem Innenminister befreundet, sondern, soweit ich weiß, auch noch mit vielen anderen hohen Tieren. Wenn sein Sohn und sein Neffe bei dem Prozess gegen Maurischat ausgesagt haben, können Sie davon ausgehen, dass sie das mit Wissen und Billigung von dem Alten getan haben. Und wenn Sie dem ans Bein pinkeln, wird der alle seine Kontakte einzusetzen wissen, um Sie fertigzumachen. Ob ich Sie da noch schützen kann, weiß ich nicht. Sie müssen selbst wissen, was Sie tun wollen.“
Jetzt wurde Travniczek wütend: „Was heißt ‚selbst wissen, was ich tun will‘, Herr Direktor? Wir sind Beamte und haben als solche einen Amtseid auf unsere Verfassung geleistet. Wir haben in Waldesruh die Tatbestände einer schweren Körperverletzung und fast hundertfacher Nötigung. Es ist unsere verdammte