Immer zwei Stufen auf einmal nehmend hastete er die Treppe hoch. Tatsächlich. Als er die Wohnungstür aufschloss, hörte er Stimmen. Und noch ehe er richtig drinnen war, wurde die Wohnzimmertür aufgestoßen und seine Tochter Julia kam ihm entgegen.
„Da bist du ja endlich, Paps!“, freute sie sich und fiel ihm um den Hals. Der Vater wusste gar nicht, wie ihm geschah. Glück, Angst, Schreck und Genugtuung fühlte er gleichzeitig und durcheinander. Und als Julia ihn gar nicht mehr loslassen wollte, begriff er vielleicht zum ersten Mal, wie sehr seine Tochter an ihm hing.
Erst als er nach einer Weile etwas aufsah, bemerkte er den zweiten Gast. Lang, dürr, mit hängendem Kopf und gebeugtem Rücken stand er in der Wohnzimmertür wie die personifizierte Verlegenheit: Christian, sein Jüngster. Der war vierzehn und wohl gerade in den letzten Monaten sehr in die Höhe geschossen, ohne dass die Breite mitgegangen wäre. Und mit diesen Ausmaßen schien sich sein Ego noch gar nicht angefreundet zu haben.
„Ja, dann komm doch auch mal her“, rief er und versuchte gleichzeitig, Julia langsam in Richtung Wohnzimmer zu schieben. Er machte mühsam einen Arm frei, um auch Christian an sich zu drücken. Als sie dann endlich zu dritt ins Wohnzimmer gelangten, konnte Bernhard sich ein heftiges Kichern nicht verkneifen.
Schließlich saßen sie dann alle um den Wohnzimmertisch und Travniczek sagte: „So, und jetzt erklärt mir mal, was hier eigentlich los ist.“
Julia sah verlegen zu Christian, dann zu Bernhard.
„Erzähl du!“
„Also, es ist im Grunde ganz einfach. Dieser sogenannte Stiefvater scheint wohl von Julia nicht lassen zu können. Er hat wieder gegrabscht. Und Mutter checkt absolut null. Da hab ich gesagt: ‚Julia, pack deine Sachen, wir gehen.‘ Und als Christian gemerkt hat, was da abging, wollte er nicht allein zurückbleiben. Ja, und jetzt sind wir alle hier.“
Die drei sahen den Vater erwartungsvoll an. Ohne noch viel nachzudenken, meinte er ganz nüchtern: „Christian, Julia, ich denke, ihr seid inzwischen alt genug, um selbst entscheiden zu können, wo ihr leben wollt.“
Julia sah ihn mit großen Augen an.
„Meinst du damit, wir können bleiben?“
Seine Augen waren feucht geworden.
„Ja, dachtest du denn, ich würde es fertigbringen, euch einfach wieder wegzuschicken?“
„Cool!“, jauchzte sie und sprang auf seinen Schoß. Christian war so verlegen, dass er nicht wusste, wie er sich verhalten sollte.
„Aber ihr wisst, mein Beruf fordert mich manchmal sehr. Daran hat sich nichts geändert, und daran wird sich auch nichts ändern können. Das müssen wir irgendwie zusammen hinkriegen.“
„Ach, Paps“, meinte Julia, die sich ganz eng an ihn kuschelte, während er sacht über ihre rotblonden Locken strich. Sie gab sich Mühe, sehr erwachsen zu klingen. „Das schaffen wir schon. Schließlich ist Bernhard schon erwachsen, ich bin fast erwachsen, und um Christian kümmern wir uns dann gemeinsam.“
Der Vater musste lachen über so viel jugendliches Selbstbewusstsein. Wobei er sich nicht so ganz sicher war, dass es tatsächlich so einfach werden würde. Aber daran wollte er jetzt nicht denken. Da erst bemerkte er auf dem Wohnzimmertisch zwei Flaschen Wein – seinen Grünen Veltliner. Eine war ganz leer, die andere zur Hälfte. Er wollte schimpfen. Vor allem Christian war doch dafür noch viel zu jung. Aber Bernhard, ein sehr guter Beobachter, kam ihm zuvor.
„Vadder, ich hol dir mal ’n Glas“, und war in die Küche verschwunden.
Schnell kam er zurück, stellte das Weinglas vor seinen Vater auf den Tisch und goss ein. Dann füllte er auch sein Glas und die seiner Geschwister. Travniczeks Ärger hatte sich wieder gelegt. Es gibt Schlimmeres, dachte er, griff nach dem Glas und verkündete mit ironischem Pathos: „Also, dann trinken wir auf die neue Familie!“
„Ist aber noch nicht wirklich komplett“, warf Bernhard ein.
„Wie meinst du das denn jetzt?“
„Oh, … das weißt du doch ganz genau.“
Er antwortete nicht, bemerkte aber die wissenden Gesichter von Julia und Christian. Hatte hier gerade der Familienrat getagt?
Bernhard sah seine Verlegenheit. „Für heute lass mal. Ich seh schon, du bist zu müd. Aber glaub nicht, dass ich dich in Ruhe lass. Wir haben uns gerade schon viele Gedanken gemacht. Aber … heute nicht mehr.“
16
Es wurde drei und es wurde vier, aber Travniczek konnte keinen Schlaf finden. Dass er mit einem Mal wieder Vater von drei Kindern war, überflutete ihn mit einem lange nicht mehr gekannten Glücksgefühl und löste eine Kaskade von Erinnerungen aus: der Sandstrand von Sylt, wo er mit den Kindern eine riesige Sandburg baute; drei neugierige Augenpaare, die an seinen Lippen hingen, wenn er aus „Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer“ vorlas; die Geburt seines Ersten, als er Marion so sehr darum beneidete, dass sie neues Leben schaffen konnte; der sechsjährige Bernhard, der weinend sein totes Meerschweinchen im Arm hielt und streichelte, während er ihm erklären musste, was Tod bedeutete; der tiefe Frieden, den er empfand, wenn er spät abends müde nach Hause kam und die entspannten Gesichter seiner schlafenden Kinder sah.
Jetzt schliefen im Nebenzimmer Bernhard und Christian, im Wohnzimmer auf der Couch Julia. Alle waren beisammen, die er liebte. Marion vermisste er nicht. Und doch stieg in ihm die Angst auf, wieder zu versagen, der Situation wieder nicht gewachsen zu sein. Oder wollte er in Wahrheit gar nicht mit jemandem zusammenleben?
Da hörte er in sich den Anfang der großen Schubertsonate und fragte sich wie schon so oft: Zu wem spricht Schubert hier eigentlich? Spricht er überhaupt zu jemandem? Bei vielen anderen Komponisten ist das klarer. Wenn Bach eine Fuge schreibt, hält er Zwiesprache mit Gott. Beethoven war der Komponist, der den Menschen, allen Menschen, am meisten zu sagen hatte. „Volksreden an die Menschheit“ nannte ein Philosoph1 des letzten Jahrhunderts seine Sinfonien. Und Schubert?
Aus der großen Klaviersonate kam ihm eine spezielle Passage in den Sinn, die ihn jedes Mal, wenn er sie spielte, neu in ihren Bann zog. Eine Melodie mit Abschied nehmendem Charakter zerbröckelt gleichsam und mündet in eine starre Fragegeste, kalt wie Eis. Statt einer Antwort wird die Melodie wiederholt und mündet wieder in dieselbe Frage, die jetzt über immer lauter werdende Akkordballungen ins harmonische Nirgendwo führt. Dann bleibt nur noch diese Fragegeste übrig, mehrfach wiederholt in wachsender Intensität – Akkordfolgen von äußerster Brutalität – und dann die Antwort: Der tiefe Triller, der am Anfang des Satzes ganz leise fernes Unheil ankündigt, jetzt so laut wie möglich zu spielen. Das ist das Unheil selbst! Das Unheil, dem niemand ausweichen kann, das alle Schönheit dieser Welt vernichtet. …
Lange Pause – und als ob nichts geschehen wäre, beginnt die Musik wieder von vorne, der ganze lange erste Abschnitt wird wiederholt.
Und das komponierte ein Mensch wenige Wochen vor seinem viel zu frühen Tod.
An wen richtete sich diese Musik eigentlich? Wer war hier angesprochen?
Wahrscheinlich niemand. Hier sprach eine tief verwundete Seele mit sich selbst. Eine Seele, die zu groß war für diese Welt, die es aber nicht ertrug, von dieser Welt nicht verstanden zu werden, und sich dennoch ständig äußern musste in einer schier unfassbaren Zahl verschiedenster Kompositionen2, sich darin selbst verzehrte und den Körper, dem sie innewohnte, so zerstörte, dass er sein einunddreißigstes Jahr nicht überleben konnte.
Warum hatte ihn diese Musik schon immer