Lazarus. Christian Otte. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christian Otte
Издательство: Bookwire
Серия: Die Zentrale
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742741233
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normal empfanden. Seine Eltern hatten sich alle Mühe gegeben ihn und seine Schwester auf dem Boden zu halten und nicht zu einer dieser abgehobenen Jet-Set-Gören werden zu lassen, die in den letzten Jahren immer und überall in der Presse und den sozialen Medien auftauchten. Junge Menschen, deren einziges Talent war, die richtigen Eltern zu haben. Im Gegensatz dazu hielt Ben sich soweit es ging aus der Öffentlichkeit raus und nutzte seine ihm gegebenen Talente. Nachdem er in seiner Jugend, wie jeder andere, gegen den Status quo rebellierte, hatte er seine Freizeit hauptsächlich vor dem Computer verbracht, und dort weiter rebelliert. Innerhalb kürzester Zeit eignete er sich mehrere Programmiersprachen an und begann Viren, Trojaner, Würmer und alle anderen Arten von Schadsoftware zu schreiben. Mit 17 gehörte er der Gruppe an, denen in den 90ern das größte Gefahrenpotential zugeschrieben wurde. Er war das, was im Volksmund als Hacker bezeichnet wurde. Wie die meisten reizte ihn nicht das destruktive, sondern das konstruktive, die Herausforderung, das Erkunden von Grenzen und das Überwinden von Hindernissen. All seine Programme dienten dazu den Verantwortlichen zu zeigen, dass sie sich nicht so sicher fühlen sollten, wie sie es taten. Stattdessen wurden Hacker kriminalisiert. Es wurde nie gefragt, warum es einem Jugendlichen möglich war auf wichtige Daten zuzugreifen, sondern nur, wer so dreist war, es zu versuchen. Die Behörden hätten noch Jahre vergeblich versucht ihn zu finden, hätte er sich nicht entschieden, seinen größten Fund öffentlich zu machen. Er hatte wirklich geglaubt, er könnte irgendjemanden wachrütteln, indem er zeigte, wie groß die Arroganz der anderen war, wenn sie glaubten sicher zu sein. Er hatte jemanden wachgerüttelt. Das war das Opfer wert, das er dafür bringen musste.

      Im Gefängnis hatte er zum ersten Mal erkannt, wie selbstverständlich ihm der Reichtum seiner Familie vorgekommen war. Nach seiner Entlassung besorgte er sich etwas Startkapital um ein eigenes Unternehmen zu gründen. Er nutzte seine Kontakte, sammelte ein paar seiner begabtesten Freunde zusammen und entwickelte Programme zum Schutz von Computern. Von Hackern gegen Hacker. So baute er sich in kurzer Zeit ein eigenes erfolgreiches Unternehmen auf. So erfolgreich, dass er nicht mehr von seinem Vater abhängig war. Und das war es, was er mehr schätzte als das Geld: Unabhängigkeit.

      Sein Unternehmen und mittlerweile anderen Geschäfte warfen genug ab, so dass er sich dieses Penthouse leisten konnte. Es war groß genug um noch jemanden darin wohnen zu lassen. So war es für ihn eine Selbstverständlichkeit, dass er Alex anbot bei ihm zu wohnen, solange er in Berlin studierte. Aber er verstand auch, warum es für Ihn schwer war die Situation zu akzeptieren.

      Im Gegensatz zu Ben hatte Alex weniger Glück gehabt. Alex war nicht im Überfluss aufgewachsen. Alex' Zweig der Familie gehörte zur klassischen Mittelschicht. Sein Vater, John, war arbeiten gegangen und seine Mutter, Maria, war Hausfrau. Als Alex 15 war starb sein Vater an einem angeborenen, aber unerkannten Herzfehler. Zwar hatte Bens Vater seiner Schwägerin finanziell helfen wollen, aber Alex Mutter war ebenso stolz und stur wie ihr Mann, und so hatte sie es strikt abgelehnt ohne Gegenleistung Geld anzunehmen. Alex hatte diesen Charakterzug von seinen Eltern zum Glück nicht geerbt. Im Gegensatz zu den beiden war er bereit Vernunft anzunehmen, wenn es an der Zeit war.

      Nach dem Tod seines Vaters hatten Alex und seine Mutter sich noch ganz gut durchgeschlagen. Sie hatte ihren alten Job in der Buchhaltung wieder angenommen und er begann sich sein Taschengeld selbst zu verdienen. Doch der nächste Schicksalsschlag ließ nicht lange auf sich warten. Keine drei Jahr später wurde bei ihm derselbe Herzfehler festgestellt, an den er seinen Vater verloren hatte, so dass er sich in Behandlung begeben musste. Kurz danach trat bei Marias' Mutter der Pflegefall ein. Maria versuchte ihre Arbeit und die Pflege ihrer Mutter unter einen Hut zu bringen, doch schon bald war sie mit ihren Kräften am Ende. Es war trotzdem Alex, der sich an seinen Onkel wand und um Unterstützung bat. Bens Vater hatte ohne zu zögern geholfen, und so war das schwerste Stück Arbeit gewesen Maria davon zu überzeugen, die Hilfe anzunehmen. Im Nachhinein war sie froh, so viel Unterstützung durch Ihre Familie zu erhalten, auch wenn sie es nie zugeben würde.

      Als Alex schließlich die Zusage zum Studium an der Technischen Universität in Berlin erhielt, wollte er zunächst in ein Studentenwohnheim. Wie sich jedoch herausstellte, war das nahezu unmöglich, da die Plätze im Wohnheim in keinem Verhältnis zu denen an der Uni standen. Diesmal war es Ben, der seine Hilfe anbot. Zwar wollte Alex lieber auf eigenen Beinen stehen, aber Bens Überzeugungskraft und seiner Fähigkeit Gegenargumente völlig zu ignorieren war es zu verdanken, dass er schließlich doch mit in das Penthouse zog.

      Da saßen und standen sie nun. Die beiden Cousins, deren Leben kaum hätten unterschiedlicher verlaufen können. Der Student und der Hacker. In einem Penthouse, dass manchen Prominenten vor Neid erblassen lies.

      „Es ist nichts verkehrt an einem Penthouse“, meinte Ben.

      „Aber ein Bettelstudent, der bei seinem reichen Verwandten wohnt und sich von ihm aushalten lässt. Das wirkt verzweifelt und erbärmlich.“

      „Klingt für mich eher nach Sitcom. Wenn sie fragt, sag ich habe dich unter Gewaltandrohung gezwungen.“

      „Glaubst du, das würde sie mir abkaufen?“

      „Vermutlich nicht, aber es lässt mich gefährlicher wirken. Und Frauen stehen auf böse Jungs.“

      Ben nahm einen Schluck aus der Flasche und ignorierte Alex' halb vorwurfsvollen, halb belustigten Blick.

      „Ich zieh mich um. Wann gibt’s Essen?“

      „In etwa 30 Minuten“, sagte Alex und begann eine Zwiebel zu schälen.

      Ben erhob sich wortlos, verließ die Küche und ging die Treppe zur Galerie hoch.

      Ben streifte das Jackett ab, kaum dass die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war. Während er sein Hemd aufknöpfte betrachtete er die blauen Flecken, die darunter zum Vorschein kamen. Es würde noch einige Tage dauern, bis sie vollkommen verschwunden waren, aber wenigstens schmerzten sie nicht mehr. Es bestand kein Zweifel mehr daran, dass er alt wurde.

      Auf Wunsch seiner Eltern, aber auch, weil es seinen eigenen Wünschen entsprach, hatten er und seine Schwester bereits als Kinder gelernt sich selbst zu verteidigen. Hauptsächlich, weil ihre Mutter Angst hatte, sie könnten entführt werden um ihren Vater zu erpressen. Er war tatsächlich nicht unbegabt, wenn man bedachte, dass er in der Schule eine Niete im Sport war.

      Jetzt hatte ihn Alex gebeten, ihm ein paar Techniken beizubringen, und Ben tat das nur allzu gerne, da es für ihn eine gute Trainingsmöglichkeit mit flexibler Zeiteinteilung bot. Alex hatte in seiner Jugend, vor dem Tod seines Vaters, seine Zeit mit Parcours vertrieben, lange Handball gespielt, und sogar eine Weile eine koreanische Kampfsportart namens Hapkido praktiziert, aber er hatte weit weniger Erfahrung mit Verteidigungstechniken als Ben. Trotzdem war es ihm gelungen, den erfahreneren Ben einige Male hart genug zu treffen, um deutliche Spuren zu hinterlassen. Es musste einfach am Altersunterschied liegen.

      5

      Vladimir Wolk stand im Büro seines Vorgesetzten an einem Regal mit Büchern. Er war ein großgewachsener, muskulöser Mann, dessen pure Erscheinung jedem der ihm begegnete Respekt einflößen konnte. Auf den ersten Blick wirke er auf Fremde wie ein ehemaliges Mitglied einer Biker-Gang, dass sich nun als Bankangestellter im Anzug versuchte. Er blätterte gerade durch eine abgegriffene Abschrift eines Werkes von Bernoulli, den er aus dem obersten Regalfach neben dem Modell einer Doppelhelix genommen hatte, als jemand den Raum betrat.

      „Ah, Wolk, da sind sie ja“, begrüßte der Mann, der sich schwer auf seinen Gehstock stützte, seinen Untergebenen, „wie ist die Lage im Fall Drakowski?“

      „Leider nichts Neues“, sagte Wolk und stellte das Buch zurück an seinen Platz.

      „Unsere Nachforschungen führen alle in eine Sackgasse. Wir können zwar nahezu das gesamte Leben des Unfallopfers rekonstruieren, aber wir finden keinen Berührungspunkt mit einem von uns.“

      „Können wir es immer noch nicht eingrenzen?“, fragte der alte Mann und hinkte, den Stock mit dem langen weißen Griff, wie ein drittes Bein benutzend, hinter seinen Schreibtisch. Dort angekommen ließ er sich mit einem hörbaren Seufzer in seinen Sessel fallen.

      „Das