Nur ein Tropfen Leben. Christina M. Kerpen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christina M. Kerpen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783847686248
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Herz, ist der Ort wo sie die nächsten Wochen erst einmal zu bleiben gedenkt, bis das Baby da ist. Danach muss sie weitersehen, doch jetzt ist erst einmal Schluss mit der anstrengende Reiserei. Das ewige Fahren bekommt ihr nicht mehr, alles wird von Tag zu Tag beschwerlicher und sie fühlt sich dick und aufgeplustert, wie ein frierender Vogel in Eiseskälte, nur dass sie selber schwitzt, wie ein Ochse am Spieß.

      ‚Mal sehen, wie die Menschen hier auf mich reagieren’, denkt Carol und schaut sich neugierig um.

      Zuerst bringt sie Wagen und Pferd im Mietstall unter, dann quartiert sie sich mit ihrer Story von der armen Witwe im Hotel ein. Dort erkundigt sie sich zunächst nach einem Schneider, der fertige Kleider in seinem Angebot hat und diese nicht nur auf Bestellung anfertigt. Dabei zeigt sie der Hotelbesitzerin lächelnd, wie sie provisorisch ihren Rock geschlossen hat. Nur mit einem Bindfaden wird er noch zusammengehalten und klafft auch schon mehr als eine Handbreit auseinander.

      Die neugierige Besitzerin des Hotels, der immer neue Fragen zu Carols Herkunft und ihrem Leben einzufallen scheinen, mustert die Fremde mit größter Neugier. Das Mädchen ist bildhübsch, hat trotz des gewölbten Leibes offensichtlich eine zauberhafte Figur, die leuchtendsten roten Haare, die die Frau jemals zu Gesicht bekommen hat und Augen von einem unwiderstehlich schönen Grün.

      Da die junge Frau das Zimmer für eine Woche im Voraus bezahlt und angekündigt hat, darüber hinaus bis mindestens zur Entbindung zu bleiben, ist die Hoteliersfrau beflissen, ihr höchstpersönlich den Weg zu einer Schneiderin zu zeigen und schon eine Stunde später ist die Schwangere vollkommen neu eingekleidet. Sie hat sich für ein schwarzes Kostüm und ein dunkelgraues Kleid mit einem weiten Rock entschieden. Beides sieht für Carols Geschmack eigentlich viel zu elegant aus und ganz schwarz mag sie sich im Prinzip auch nicht kleiden, aber als trauernde Witwe muss sie auf gedeckte Farben achten. Außerdem bekommt sie in ein paar Wochen ein Kind und kann jetzt nicht mehr wie ein Wildfang durch die Gegend fegen, die Zeiten sind unwiederbringlich vorbei.

      Sie seufzt und betrachtet sich im Spiegel, dabei muss sie an die Worte der Schneiderin denken, die erklärt hatte, dass viele werdende Mütter Schwarz trügen, weil die Farbe schlanker mache, obwohl Carol das nun ganz sicher nicht nötig habe.

      Das Girl dreht sich zur Seite und betrachtet das Fass, das sie unter ihren Rock gesteckt zu haben scheint und holt tief Luft. Wehmütig denkt sie noch immer an die unbeschwerte Zeit zurück, als sie noch das wilde, hitzköpfige, fröhliche Cowgirl sein durfte. Alles aus und vorbei und das nur durch eigenes Verschulden.

      Nachdenklich stochert sie beim Abendessen im Speisesaal in ihrem Essen, wobei sie neugierig von einer ganzen Menge Augenpaare beobachtet wird. Sie bringt kaum einen Bissen herunter, denn sie ist urplötzlich von einer starken inneren Unruhe befallen, die sie sich beim besten Willen nicht erklären kann. Sie denkt an David und seine zärtlichen Umarmungen und kann es schließlich nicht verhindern, dass sich ihre grünen Augen mit Tränen füllen.

      Wie unter einem geheimen Zwang schiebt das Mädchen seinen Teller von sich, steht auf und geht zum Klavier, seit Wochen zum ersten Mal ohne vorher eine Gage auszumachen.

      Im Augenblick denkt sie nicht einmal daran, wie sie in den letzten Wochen ihren Lebensunterhalt bestritten hat.

      Vorsichtig öffnet sie den Deckel, schlägt sanft ein paar Tasten an und hört deutlich die Stimme des Willow-Tree-Vormanns: „Ich träume von einem Mädchen, das Klavier und nicht unbedingt Gitarre spielen kann.“

      Das Instrument ist sehr gut gestimmt, so nimmt Carol, wie in Trance, auf dem Klavierhocker Platz, murmelt unhörbar: „Ach David, ich kann doch Klavier spielen.“, und beginnt leise ein paar Melodien zu intonieren.

      Sie spielt gedankenverloren ihre ganzen Lieblingsstücke von Bach, Mozart und Chopin.

      Die Gäste im Speiseraum des Hotels von Plumquartpinie sind genau so begeistert von dem Vortrag, wie alle Gäste in den vielen Hotels, in denen Carol bisher aufgetreten ist. Sie applaudieren laut und bitten enthusiastisch um eine Zugabe. Diese Begeisterung bringt Carol auf den Boden der Tatsachen zurück und gibt ihr gleichzeitig den Mut, zum Abschluss ein Liebeslied zu spielen und dazu zu singen, obwohl sie sich eigentlich gerade hier nicht hatte präsentieren wollen, sondern möglichst unauffällig die letzten Schwangerschaftswochen verbringen wollte.

      Unter dem Beifall der Anwesenden erhebt sich das junge, rothaarige Mädchen schließlich und verlässt mit gesenktem Blick und ohne noch irgendjemanden anzusehen, damit niemand ihre Tränen sieht, den Raum, um auf ihr Zimmer zu gehen.

      Seufzend lässt sie sich auf das breite Bett sinken und starrt aus noch immer tränenfeuchten Augen vor sich hin. Das Baby in ihrem Bauch spürt die traurige Stimmung der Mutter und tritt heftig um sich. Sie kann das Flattern genau spüren. Sanft legt sie beide Hände auf ihren Leib und murmelt: „Hallo, Du Wildfang, wegen Dir sitze ich jetzt hier einsam rum, anstatt auf Willow-Tree bei den Leuten zu sein, die ich mag und liebe. Hoffentlich erdrücke ich Dich armen Wurm nicht mit all meiner Liebe, wenn Du erst einmal auf der Welt bist. Ich vermisse Deinen Vater nämlich unendlich und wenn Du ihm auch nur ein wenig ähnlich sein wirst, werde ich es kaum aushalten.“ Sie schluchzt. „Ach, David, mein Geliebter, Du fehlst mir so wahnsinnig. Es tut richtig böse weh.“

      Unablässig streicheln ihre Hände die Wölbung ihres Bauches und sie kann spüren, wie das kleine Wesen darin immer ruhiger wird. Erschrocken zuckt sie aus ihren Gedanken hoch, als es unvermittelt an der Zimmertür klopft. Sie erhebt sich, streicht den Rock ihres neuen Kostüms glatt, räuspert sich und ruft leise: „Ja bitte, die Tür ist nicht verschlossen.“

      Erwartungsvoll schaut sie, wer ihr wohl einen Besuch abstattet. Es wird ja wohl nicht der Sheriff sein, der den jugendlichen Gast einer näheren Untersuchung vollziehen will.

      Erstaunt erkennt sie den Hoteldirektor, der seinen Kopf durch den Türspalt schiebt und schnell überlegt sie, ob sie irgendwie gegen die Hausordnung verstoßen haben könnte. Außer unerlaubten Lärmens während der Abendmahlzeit fällt ihr nichts ein und das kann es doch wohl nicht sein, denn es hat sich niemand über ihr Klavierspiel beschwert. Das Geld für das Abendessen hat sie auf den Tisch gelegt, und zu wenig kann es eigentlich auch nicht gewesen sein.

      „Störe ich Sie gerade, Mrs. Blake?“

      Carol schüttelt den Kopf. Was mag der Mann nur von ihr wollen? Sie hat ihr Zimmer eine Woche im Voraus bezahlt und ist nicht ohne Gepäck erschienen, was manchmal ein wenig verdächtig auf die immer neugierigen Vermieter wirkt. Sie lächelt immer noch und sagt mit ihrer klaren Stimme leise: „Treten Sie ruhig näher, Sir. Was kann ich für Sie tun?“

      „Jede Menge, Mrs. Blake, jede Menge.“ Er grinst jovial und Carol weicht automatisch ein Stückchen zurück. Der Mann kommt ihr vor, wie der Fuchs, der den Hühnerstall belauert und sie ist auf der Hut, doch die Anspannung löst sich schon bei den folgenden Worten. „Meine Frau und meine Wenigkeit haben mit angenehmem Erstaunen und äußerstem Wohlbehagen ihrem Klaviervortrag gelauscht.“

      Carols Augen verengen sich unmerklich ein wenig. ‚Ist der Typ bescheuert?’ denkt sie. ‚Wie kann ein Mensch, der in so einem Kaff in der Provinz lebt, nur so gestelzt quatschen? Komm zur Sache Mann, Du nervst!’ Sie schweigt jedoch höflich und blickt ihn nur weiter erwartungsvoll an.

      „Sie spielen fabelhaft. Ich habe ein wenig ein Ohr für solche Talente. Auf welchem Konservatorium waren sie?“

      Dieses Wort hat die junge Frau noch nie gehört. Was haben Konserven mit Musik zu tun? Sie denkt: ‚Du hast Dich verhört, liebe Carol, außerdem hat der Typ hat eine Meise unter seinem Pony!’

      Laut fragt sie allerdings, noch immer freundlich lächelnd: „Wie meinen? Ich kenne kein Konversatorium.“ Konversationen kennt sie, das hat mit Reden zu tun.

      „Konservatorium, meine Liebe“, der Mann ist ein wenig enttäuscht, denn er hatte gedacht, eine junge Frau von Welt vor sich zu haben, aber wahrscheinlich ist sie lediglich höchst talentiert. Er räuspert sich, dann erklärt er: „Ich möchte gerne erfahren, wo sie das Klavierspiel erlernt haben, ich habe nämlich selten einen so großartigen Vortrag gehört. Vor allem Chopin beherrschen Sie meisterhaft. Meine Frau spielt schon ausgezeichnet, aber gegen Sie ist sie nur eine kleiner