Sie betupfte die Wunde an meiner Oberlippe mit einem mit Kamillenextrakt getränkten Küchentuch und sah mich dabei – wie immer – auf diese seltsam wissende Weise an.
Ihm nur nicht mehr begegnen müssen, hab‘ ich gestern gedacht. Dann lieber ein schnarchender Vater auf dem Sofa, eine häkelnde Mutter im Ohrensessel, zwei eingedöste, von Oma in eine Decke gewickelte Kinder auf dem Perserteppich und einmal quer durchs Fernsehprogramm bis zum Nacht-Journal.
Gleich um zehn habe ich den Termin bei meinem Neurologen.
Ich lege den Gurt an, werfe einen kritischen Blick in den Rückspiegel, zupfe ein wenig an meinen Haaren herum und verreibe die weißen Reste der Salbe an meiner Oberlippe. Finde, dass ich schrecklich aussehe. Nicht zu ändern. Jedenfalls nicht im Moment. Seufzend lasse ich den Motor an und fahre los. Zum Glück kein Berufsverkehr mehr. Aber es ist schwer, in der Stadt einen Parkplatz zu finden. Meine Aufmerksamkeit konzentriert sich eine Weile auf dieses Problem.
Abgehetzt schaffe ich es bis ins Wartezimmer. Nur wenige Leute darin. Alle haben ihren Termin. Ich blättere in einer Zeitschrift vom letzten Monat. Dass die immer diese uralten Dinger in ihren Wartezimmern herumliegen lassen müssen! Ich lese, ohne zu begreifen. Tratschgeschichten aus der High Society. Interessiert mich alles nicht. Auf jeden Fall haben die auch ihre Probleme. Offensichtlich.
Wieso bin ich so ruhig?
Die Tür geht auf. »Frau Brink?«
Die Hüfte schmerzt, als ich aufstehe und die wenigen Schritte hinüber zu meinem Arzt ins Sprechzimmer gehe. Ich setze mich vor seinem Schreibtisch auf den eleganten schwarzen Ledersessel und starre auf die Papiertaschentücher. Sie liegen zwischen dem Kalender und dem silbergerahmten Familienfoto auf der Schreibtischplatte. Wie immer.
Wir kennen uns schon lange. Seit Jahren behandelt er die Nervenschmerzen in meinen Schultern, die sich organisch eigentlich nicht erklären lassen. »Sie sollten sich einfach nicht so viel aufladen«, rügt er mich ständig, und ich weiß, dass er damit meine psychische Last meint. Er ist der Einzige, der über alles Bescheid weiß. Bis auf Elvira natürlich. Aber die ist im Augenblick weit weg.
Er schiebt meine Karteikarte und seinen Stift zur Seite, lehnt sich in seinem Sessel zurück und lächelt mich an. Signalisiert Aufmerksamkeit, erwartet die aktuelle Geschichte von mir. Auch wie immer.
»Ich hab‘ in den letzten Wochen furchtbare Schlafprobleme«, beginne ich zaghaft. »Hab‘ schon alles versucht. Gelesen vor dem Schlafengehen, warm gebadet, Baldriantropfen geschluckt, Melissentee getrunken. Bin abends noch mit dem Hund spazieren gegangen, um mich zu beruhigen. Aber es hilft alles nichts. Ich kann einfach nicht einschlafen. Das macht mich fertig! Meine Nerven sind zum Zerreißen gespannt! Ich muss endlich mal wieder tief schlafen. Ich brauche ein Schlafmittel. Eines, das besser und länger wirkt, als das frei verkäufliche Zeug aus der Apotheke.«
Er sieht mich eine Weile wortlos an, und ich fühle mich dabei wie mit Röntgenaugen durchleuchtet. »Sind Sie sicher, dass Ihnen das helfen wird?«, fragt er dann, beugt sich wieder vor, stützt die Arme auf den Schreibtisch und sieht mir prüfend in die Augen. »Müssen Sie da nicht an grundsätzliche Dinge heran?«
»Ach Gott, ja«, sage ich und weiche seinem Blick verunsichert aus.
»Als Außenstehender kann man immer leicht reden ...«
»Vielleicht weil man als Außenstehender objektiver ist«, bemerkt er lakonisch, und ich überlege fieberhaft, wie ich ihn davon überzeugen kann, dass mir in dieser akuten Situation keine Zeit bleibt für den langwierigen Prozess grundlegender Veränderungen. »Ich sehe doch, wie Sie unter Ihrer Situation leiden. So können Sie nicht bis in alle Ewigkeit weiter machen, ständig nur an den Symptomen kurieren und Pillen schlucken. Ihr Problem liegt ganz woanders. Sie brauchen keine Chemie, Sie müssten wirklich mal nach Alternativen schauen, ihren Mann dazu bringen, dass er endlich eine Familientherapie mit ihnen zusammen in Angriff nimmt. Ja, oder ihn konsequent vor die Wahl stellen ...«
»Ich weiß, ich weiß«, verlege ich mich aufs Weinerliche, die Taschentücher im Blick. »Aber dazu brauche ich Kraft. Dazu muss ich mal richtig schlafen können. Sie wissen, dass ich Angst habe, dass er mich bedroht. Er wird mich überall finden, wenn ich ihn verlasse, hat er gesagt ...«
Endlich gelingt es mir in Tränen auszubrechen, und ich angele nach der Packung mit den Papiertaschentüchern.
»Wir haben ja schon getrennte Schlafzimmer. Das bringt ein bisschen Distanz, und manchmal können wir sogar wieder miteinander reden. Es ist ja nicht so, als geschähe gar nichts. Das geht nur alles nicht so schnell. Helfen Sie mir. Bitte! Ich kann nicht mehr. Diese Schlaflosigkeit saugt mich aus, zieht mir die Energie ab. Wenn das so weiter geht, schaffe ich gar nichts mehr.«
Aus meinem gequälten Weinen wird hemmungsloses Schluchzen. Geräuschvoll putze ich mir die Nase. Ich versuche, meine Augen frei zu reiben. Die Wimperntusche muss mir das ganze Gesicht verschmieren. Doch was soll‘s. Kommt sicher gut.
»Ungern mache ich das. Sie arbeiten – wie gesagt – am Symptom. Eigentlich unterstütze ich das nicht gern.« Er senkt den Kopf, scheint ein paar Augenblicke nachzudenken, mit sich zu ringen. Dann greift er endlich nach seinem Rezeptblock und beginnt zu schreiben. Geschafft!
In der Apotheke nehme ich hastig die Packung an mich.
»Wo warst du?«, fragt er mich, als ich zu ihm in die Küche komme. Er sitzt gerade beim Frühstück, und ich bin froh, dass der Alkohol es noch immer nicht geschafft hat, seinen obligatorischen Morgenkaffee zu verdrängen. Ohne den Kaffee würde es nicht gehen.
»In der Stadt«, antworte ich und stelle meine Handtasche auf die Arbeitsplatte.
Nur der Hund freut sich, dass ich wieder da bin. Er springt japsend und hechelnd an mir hoch, ist kaum zu beruhigen, benimmt sich, als sei ich wochenlang nicht zu Hause gewesen.
Richard macht sich nicht die Mühe, mich anzuschauen. Er starrt in die auf dem Tisch ausgebreitete Zeitung, als sei sie der Nabel der Welt, das Einzige, was ihn im Augenblick interessiert.
Seine Kaffeetasse ist leer!
»Willst du noch einen?«, frage ich, während ich sie vom Tisch nehme und hinüber zur Anrichte trage.
Statt zu antworten fragt er mit den Augen im Sportteil: »Was hast du denn in der Stadt gemacht?«, und ich weiß, dass er in der Hauptsache wissen will, ob und wie viel Geld ich in meine eigenen Bedürfnisse investiert habe.
»Willst du noch einen Kaffee?«, frage ich wieder, greife nach der Kanne und drehe ihm den Rücken zu. Ich habe keine Lust, seine Frage zu beantworten oder ihn am Küchentisch Zeitung lesen zu sehen. Ich habe überhaupt keine Lust mehr, ihn zu sehen und mit ihm zu reden. Es stört mich heute kaum, dass er ignoriert, wie er mich zugerichtet hat. Wie jedes Mal tut er so, als sei nichts geschehen, als habe er es nicht nötig, sich zu entschuldigen. Dabei sind die Verletzungen in meinem Gesicht nicht zu übersehen.
Ich drehe das Radio etwas lauter, krame die Packung aus meiner Tasche, drücke ein paar Tabletten aus der Plastikfolie und lege sie vorsichtig neben die Kaffeetasse. Dann schütte ich Kaffee ein und lasse die Tabletten hineingleiten.
»Zucker und Milch?«
»Schlechtes Gewissen?«, fragt er zurück. »Heute mit Bedienung? Du weißt doch, wie ich meinen Kaffee trinke.«
Nach außen hin bleibe ich ruhig, gebe beides in die Tasse und rühre lange und geräuschvoll um. Impertinent, mich zu fragen, ob ich ein schlechtes Gewissen habe! Wieso vermutet er bei mir ein schlechtes Gewissen? Was geschehen wird, kann er noch nicht wissen, und nach allem, was schon geschehen ist, bin ja wohl nicht ich es, die ein schlechtes Gewissen haben sollte ...
Ich befürchte, dass die Tabletten noch nicht restlos aufgelöst sind, dass eventuell Krümel davon oben schwimmen werden. Habe so etwas ja noch nie gemacht. Lasse mich deshalb jetzt doch auf ein kurzes Gespräch mit ihm ein. Rühre dabei weiter in der Kaffeetasse herum.
»Ja,